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„Wir dürfen den Radikalen nicht auf den Leim gehen“

Manfred Weber und Dr. Peter Liese über Europa, Bürokratie und Amalgam

Entscheidungen aus Brüssel wirken sich auch auf die Zahnarztpraxen aus. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Amalgam-Verbot. Wir sprachen mit den Europaabgeordneten Manfred Weber (CSU) und Dr. Peter Liese (CDU) über den wachsenden Einfluss der EU auf nationale Entscheidungen. Weber ist Vorsitzender der EVP-Fraktion, der approbierte Mediziner Liese gehört dem Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik an.

Der Niederbayer Manfred Weber ist Vorsitzender der EVP-Fraktion im
Europäischen Parlament. © EVP-Fraktion

BZB: Herr Weber, Deutschland ist aktuell wieder der „kranke Mann Europas“. Welchen Anteil hat daran die Politik der Ampelkoalition?

Weber: Leider steht Deutschland bei der wirtschaftlichen Entwicklung in der EU ganz hinten. Das ist nicht nur für unser Land schlecht, sondern auch für ganz Europa, wenn die stärkste Volkswirtschaft schwächelt. Der Ampelkoalition ist es aufgrund falscher Akzente, zu viel Ideologie und zu wenig Zukunftsorientierung bisher nicht gelungen, einen echten Impuls zu geben. Natürlich ist der Krieg in der Ukraine mit all seinen wirtschaftlichen Folgen eine außergewöhnliche Belastung. Aber anstatt auf Entlastungen und Wachstumsakzente zu setzen, verheddert sich die Ampel in einem Gestrüpp aus sich widersprechenden Maßnahmen, Umverteilung und Verbotspolitik.

BZB: Und wer ist aktuell der ökonomische „Musterschüler“ in der EU?

Weber: Viele südliche und östliche EU-Länder machen zurzeit große Fortschritte. Das liegt zum einen sicher an einem gewissen Nachholeffekt, aber viele dieser Länder machen ganz bewusst wachstums- und wirtschaftsfreundliche Politik. Eine besonders gute Rolle spielt Griechenland, das sich laut renommierter Wirtschaftsexperten und Wissenschaftler vom Sorgenkind in der Zeit der linken Regierungen zu einem innovations- und investitionsfreundlichen Standort unter der aktuellen EVP-Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis entwickelt hat. Besonders zu denken muss uns geben, dass sich auch alle größeren Volkswirtschaften in der EU, wie Frankreich, Italien, Spanien oder die Niederlande, bei den Wachstumszahlen allesamt deutlich besser entwickeln als Deutschland. Insgesamt müssen die EU-Staaten konsequent auf Zukunft und auf eine starke Wirtschaft inklusive Industrie setzen. Das kam in jüngerer Zeit etwas zu kurz.

BZB: Populisten sind weltweit auf dem Vormarsch. Die EU ist davon nicht ausgenommen. Teilen Länder wie Ungarn überhaupt noch die europäischen Grundwerte?

Weber: Unsere Gesellschaft erlebt aufgrund zahlreicher parallel laufender Entwicklungen tiefgreifende Veränderungen. Dies führt zu Verunsicherung, Ängsten und Spaltung. Die globalen Machtzentren verschieben sich, wir haben Krieg in Europa, der Klimawandel fordert ungemein heraus, die Migrationszahlen sind zu hoch, die Preise steigen und die Wirtschaft stagniert – und das sind nur einige Punkte herausgegriffen. Radikale bieten einfache Antworten. Die Situation in Ungarn ist eine besondere, weil die dortige Regierung eine nationalistische und antieuropäische Politik betreibt sowie ein gespaltenes Verhältnis zum Rechtsstaat hat. Gerade deshalb gehen die EU-Kommission und die anderen EU-Staaten auch gegen diese nicht haltbaren Zustände vor, etwa durch das Einfrieren von EU-Geldern.

BZB: Wie kann man dem Vormarsch rechter und linker Demagogen entgegenwirken?

Weber: Wir dürfen der Propaganda, dem Hass und den einfachen Botschaften der Radikalen nicht auf den Leim gehen. Als bürgerliche Kraft der Mitte nennen wir die Dinge beim Namen und wollen Herausforderungen lösen. Dafür stehen wir als CDU und CSU in Deutschland und als EVP in Europa. Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Ampelregierung ihre Sorgen und Ängste gar nicht wahrnimmt. Wir setzen auf die Themen Sicherheit, Zusammenhalt und Wohlstand. Es braucht etwa Entlastungen für den Mittelstand, für die Landwirtschaft oder bei den Energiepreisen. In der EU wollen wir einen Kommissar für Mittelstand einführen, der sich auch um die Entbürokratisierung kümmert.

BZB: Die EU wird meist mit (unnötiger) Bürokratie und schwerfälligen Entscheidungsprozessen in Verbindung gebracht. Was sagen Sie zu dieser Negativstimmung?

Weber: Da ist zum Teil etwas dran, aber wenn ich mir die Prozesse und die Bürokratie in Deutschland anschaue, dann tue ich mich schwer, dies als EU-spezifisch einzuordnen. Klar ist, es braucht bei der Bürokratie Entlastungen. Und wir müssen bei den Entscheidungen weg von der Einstimmigkeit in bestimmten Bereichen, weil sie die EU langsam und handlungsschwach machen. Kompromisse sind in einer Union der 27 wichtig, aber es braucht Mut, Ambition und Handlungsfähigkeit. Ich kann Skeptikern nur sagen: Ja, Kritik ist notwendig, und es läuft sicher nicht alles gut. Aber dieses Europa heute ist mit Sicherheit das beste Europa, das es je gab. Der Preis, es zu zerstören, ist zu hoch und würde in Gegeneinander, Unsicherheit und wirtschaftlichem Abstieg münden. Friede, Freiheit und Wohlstand sind die größten Erfolge der EU – und das ist auch das Zukunftsversprechen Europas.

BZB: Herr Dr. Liese, Entscheidungen aus Brüssel wirken sich unmittelbar auf den Alltag der Mitgliedstaaten aus. Ein gutes Beispiel ist das Amalgamverbot. Wie kam es zu dem Beschluss?

Der Südwestfale Dr. Peter Liese gehört seit 1994 dem Europäischen
Parlament an. Er ist Arzt und Sprecher der EVP für Umweltfragen, öffent-
liche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. © Marcus Schwarze

Liese: Amalgam ist in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits seit Längerem verboten. Diese Mitgliedstaaten sowie Umweltverbände haben auf ein möglichst schnelles Verbot gedrängt und hatten dabei eine Mehrheit der Abgeordneten aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken hinter sich. Unsere Berichterstatterin Marlene Mortler hat versucht, ausreichende Übergangsfristen zu erreichen. Es gibt ja Alternativen zum Amalgam, aber die sind teurer. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung dafür zu sorgen, dass die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten hierfür übernimmt und die Patienten nicht überfordert werden.

BZB: Auch die Medizinprodukteverordnung wird in Deutschland kritisch gesehen. Die zusätzliche Bürokratie könnte dazu führen, dass Produkte vom Markt genommen werden oder Hersteller aufgeben. Wie bewerten Sie die jetzige Lage?

Liese: Wir haben in der Tat ein Problem und die EU-Institutionen müssen so schnell wie möglich handeln. Die Medizinprodukteverordnung war notwendig, da es nicht nur den Skandal um schadhafte Brustimplantate der Firma PIP, sondern auch eine Reihe von weiteren Skandalen gab. Der Kern der Veränderung – unangemeldete Kontrollen, eine bessere Überwachung der Benannten Stellen und ein Register über Implantate – sind nach wie vor sinnvoll. Die EU-Institutionen haben jedoch über das Ziel hinausgeschossen. Es gibt zu viel Papierkram und unnötige Bürokratie, die keine zusätzliche Sicherheit mit sich bringen. Dadurch haben Hersteller leider schon Produkte vom Markt genommen. Wir als EVP fordern mit Nachdruck eine Entschlackung. Nach viel Zögern hat die Europäische Kommission jetzt eine vorzeitige Evaluation angekündigt. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass wir Ursula von der Leyen persönlich eingeschaltet haben.

BZB: Der europäische Gesundheitsdatenraum wird weiter vorangetrieben. Gleichzeitig rücken Einrichtungen des Gesundheitswesens ins Visier internationaler Hackerbanden. Halten Sie den Datenschutz hochsensibler Gesundheitsdaten auf nationaler und europäischer Ebene für ausreichend?

Liese: Der Schutz hochsensibler Gesundheitsdaten muss auf allen Ebenen sichergestellt werden. Gleichzeitig müssen wir aber die Chancen der Digitalisierung nutzen. Andere europäische Länder machen uns vor, wie es geht. Wenn ich Kollegen aus Estland erzähle, dass wir bis vor Kurzem noch Papierrezepte hatten, schütteln sie nur den Kopf. Wenn Ärzte und Patienten, sofern die Patienten das wollen, im Notfall schnell auf medizinische Informationen wie Vorerkrankungen, Nebenwirkungen oder Allergien zugreifen können, kann das Menschenleben retten. Für die Forschung ist es extrem wichtig, dass in allen EU-Mitgliedstaaten bei gleicher Interpretation der Datenschutzstandards und ohne Rückverfolgbarkeit zu Namen des Patienten Daten genutzt werden können.

BZB: Die EU will den „gleichberechtigten Zugang aller Europäer zu einer modernen und effizienten Gesundheitsversorgung“. Ist das nicht vor allem eine nationale Aufgabe?

Liese: Die Organisation des Gesundheitswesens und insbesondere der Leistungskatalog sollen und werden nationale Aufgabe bleiben. Wir haben allerdings eine Verantwortung, wenn bestimmte Medikamente, zum Beispiel Krebsmedikamente, die nach Einschätzung der Wissenschaftler einen echten Mehrwert bedeuten, nur in vier oder fünf Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen. Im europäischen Arzneimittelrecht haben wir daher als Ausschuss für Umwelt und Gesundheit festgeschrieben, dass die Firmen, wenn sie ein Produkt auf den Markt bringen, ihrerseits die Voraussetzungen erfüllen müssen, damit es in allen 27 Mitgliedstaaten genutzt werden kann. Die Mitgliedstaaten selbst treffen dann aber die Entscheidung, ob sie das Medikament national erstatten.

BZB: In Europa gibt es ganz unterschiedliche Gesundheitssysteme – staatliche, halbstaatliche und privatwirtschaftliche. Welches Modell halten Sie für das beste?

Liese: Unser Gesundheitssystem ist trotz vieler Schwächen im Kern eines der besten der Welt. Wir müssen es sinnvoll weiterentwickeln und können dabei auch von anderen Ländern lernen. Ein wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die Digitalisierung und die Vermeidung von Doppeluntersuchungen durch eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Medizin. Staatliche Gesundheitssysteme wie in Großbritannien sind nicht erfolgreich, da es zum Teil zu unverantwortlich hohen Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten kommt.

BZB: Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Leo Hofmeier.