Dr. Dr. Markus Tröltzsch und Priv.-Doz. Dr. Dr. Matthias Tröltzsch

Wie viel Medizin braucht die Zahnmedizin?

Humanmedizin und Zahnmedizin müssen enger „verzahnt“ werden, fordern zwei junge MKG-Chirurgen aus Ansbach. Es fehlt medizinisches Wissen in der Zahnarztpraxis – und ebenso fehlt zahnmedizinisches Wissen in der Humanmedizin. Dr. Dr. Markus Tröltzsch und Priv.-Doz. Dr. Dr. Matthias Tröltzsch haben deshalb das Nachschlagewerk „Medizin in der täglichen zahnärztlichen Praxis“ geschrieben, das in abgeschlossenen Kapiteln Basiswissen zu vielen zahnmedizinisch relevanten Erkankungen vermittelt. Unter anderem werden der kardiovaskuläre Bereich, Diabetes mellitus, Bisphosphonate und onkologische Krankheitsbilder erläutert.

BZB: Als MKG-Chirurgen sind Sie beide Mediziner und Zahnmediziner. Meines Wissens nach gab es Zeiten der klaren Abgrenzung beider Fachbereiche, die sich bereits im Studium manifestierte. Ist das heute an den Universitäten anders?

Matthias Tröltzsch: An den Universitäten ist es insofern nicht anders, weil die MKG-Chirurgie als Bindeglied sowohl in der Human- als auch in der Zahnmedizin implementiert ist. Es existiert also in beiden Fachbereichen eine intensive Zusammenarbeit und die MKG-Chirurgie bildet den Link. An den Universitäten und an den großen Kliniken versteht sich die MKG-Chirurgie in erster Linie als medizinisches Fach, in der Traumatologie und in der Kopf-Hals-Medizin, und aus diesem Grund herrscht hier schon eine gewisse Abgrenzung zur Zahnheilkunde, also zur Prothetik und zur Konservierenden Zahnheilkunde. Auch im Notdienstbereich ist das so. Was die studentische Ausbildung betrifft, gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren schon die Möglichkeit, beides parallel zu studieren. In der Zeit, in der wir studiert haben, war es absolut verboten innerhalb einer Fakultät. Man wurde von der Fakultät sogar für einen Studiengang exmatrikuliert. Die Devise war klar: Es geht nur eins nach dem anderen. Wenn es die Hochschule erlaubt hat, konnte man vielleicht den einen oder anderen Kurs besuchen. Je älter man aber wurde, desto schwerer wurde es, das hatte auch mit der Mittelzuweisung zu tun. Dann kam eine Zeit Anfang der 2010er-Jahre, in der Universitäten wie Freiburg, München und Heidelberg es aggressiv propagiert haben, dass man Medizin und Zahnmedizin parallel studieren konnte. Da gab es Kolleginnen und Kollegen, die bereits mit 26 Jahren doppelapprobiert waren, was wirklich revolutionär war. Das ist aber wieder umgekehrt worden. Zurzeit ist es so, dass ausschließlich ein Studium absolviert werden kann.

BZB: Welchen Stellenwert hat die Humanmedizin heute in der zahnärztlichen Praxis?

Markus Tröltzsch: Wir sehen, dass er wieder größer wird. Das liegt zum einen an der Demografie, und es liegt auch an den forensischen Komplikationen, die sich einstellen können, wenn wir medizinisches Wissen außer Acht lassen. Und dann sehen wir, dass uns der interdisziplinäre Ansatz in gar nicht wenigen Bereichen weiterbringen kann. Beispiel: die Kopfschmerztherapie. Hier befinden wir uns in einem sehr engen Überschneidungsgebiet zwischen Zahnmedizin und Neurologie oder im Bereich der Parodontitis, Diabetologie und Kardiologie. Was derzeit wieder mehr in den Fokus rückt, ist die Borreliose. In gar nicht so seltenen Fällen kommen Patienten mit diffusen Schwellungen im Gesicht in die Praxis und es stellt sich heraus, dass die Borreliose das Problem ist. Zu Ihrer Frage: Ich glaube, dass der Trend sich weiter verstärken wird, weil die Menschen älter und damit auch kränker werden und dann mehr Medikamenten-Interaktionen zu beachten sind. Wir werden also immer mehr Fälle haben, bei denen auch der medizinische Grundzustand Auswirkungen auf die zahnmedizinische Behandlung hat: Patienten, die Bisphosphonate nehmen müssen. Wie kann ich hier überhaupt noch eine PAR oder PZR machen? Solche Fragestellungen werden immer häufiger.

BZB: Sie haben beide gemeinsam mit Priv.-Doz. Dr. Dr. Philipp Kauffmann ein Nachschlagewerk geschrieben, das die Medizin in der täglichen zahnärztlichen Praxis beschreibt. Worum geht es Ihnen dabei, wo setzen Sie an?Markus Tröltzsch: Wir setzen tatsächlich bei Null an. Nachschlagewerk trifft es gut. So ist es auch aufgebaut. Es ist kein Buch, das Sie von Anfang bis zum Ende durchlesen müssen, sondern es enthält Kapitel, die auf die diversen Fragestellungen des Zahnarztes eingehen. Wenn ich beispielsweise einen Patienten mit einer Demenz vor mir habe oder einer Nierenerkrankung oder einem Diabetes, kann ich das entsprechende Kapitel aufschlagen und erhalte in einer relativ kurzen Übersicht alle relevanten medizinischen Informationen zu dem Themenkomplex – im theoretischen Bereich und für die Anwendung in der Zahnarztpraxis, gegliedert nach den entsprechenden Krankheitsbildern. Dann gibt es die Bereiche Anatomie und Pharmakologie, die uns mehr oder weniger das Rüstzeug für den Alltag geben. Das ist einmal theoretisch dargestellt und für die konkrete Anwendung geeignet – gegliedert nach den entsprechenden Krankheitsbildern.

BZB: Diverse Rezensenten loben das Buch genau dafür. Was war die Triebfeder, diesen Ratgeber zu schreiben?

Markus Tröltzsch: Wir haben in der Zahnmedizin ein Problem. Aufgrund der Studienordnung und der Taktung der Semester ist es für Studierende der Zahnmedizin fast nicht möglich, die adäquate Menge an medizinischem Wissen mitzunehmen, die sie real für die Praxis brauchen. Entsprechend war unser Ansinnen, dass wir ein Standardbuch für die Praxis schreiben, mit dem man auch zügig auf die entsprechenden Krankheitsbilder zugreifen kann, und das vor allem so aufbereitet ist, dass es für die zahnärztliche Praxis relevant ist.

BZB: Ist aus wissenschaftlicher Sicht noch etwas hinzuzufügen?

Matthias Tröltzsch: Es ist immer zu begrüßen, wenn Zahnärzte so viel Wissen haben, dass sie die wissenschaftlich relevanten Dinge entdecken. Es gibt in der Medizin ein ungeschriebenes Gesetz: Sie sehen nur das, was sie wissen. Wenn Sie also eine Erkrankung oder eine Problematik noch nie gesehen haben, werden Sie diese wahrscheinlich nicht feststellen. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Praxen, sondern auch für die Kliniken. Derjenige, der damit arbeitet, ist nicht immer derjenige, der die meiste Berufserfahrung hat. Das ist jetzt mal eine traurige Aussage, aber in den Kliniken ist es nun mal so, dass in den Ambulanzen vorwiegend die sogenannten Rookies arbeiten. Es sind zwar Leute mit viel Erfahrung da, die das Ganze beaufsichtigen, nur die müssen ja auch erst einmal den Fall zu Gehör bekommen. Es ist einfach entscheidend, gewisse Diagnosen gleich zu stellen, um für den Patienten entsprechende Erleichterung zu schaffen, es auch wissenschaftlich auszuwerten und dadurch Zusammenhänge herstellen zu können.

Markus Tröltzsch: Das gilt sowohl für Zahnmediziner als auch für Mediziner. Wir haben genauso das Problem, dass zahnärztliches Wissen in der Medizin fehlt. Wir hatten kurz vor der Coronakrise begonnen, einen Kurs „Zahnmedizin für Mediziner“ für unsere lokalen Kollegen anzubieten. Im nächsten Frühjahr wollen wir das Thema wieder anstoßen.

BZB: Kaum ein Arzt sieht seine Patienten häufiger als der Zahnarzt. Natürlich steht dabei der Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich im Vordergrund. Welche Erkrankungen über das eigene Fachgebiet hinaus kann der Zahnmediziner also frühzeitig erkennen?

Markus Tröltzsch: Das ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt sehr viele Erkrankungen, die aufgrund der Reduktion des Allgemeinzustandes Mund-, Kiefer-, Gesichtssymptome mit sich bringen können. Eine Sache sind zum Beispiel die Lymphome. 25 Prozent der Erstmanifestation von Lymphomen bilden eine Schwellung oberhalb der Clavicula, wo nicht selten primär mal ein Zahnarzt konsultiert wird und dann häufig keine dentogene Ursache vorhanden ist. Schwieriger wird es, wenn zusätzlich eine dentogene Ursache vorliegt, die das Lymphom aber gar nicht ausgelöst hat. Dann wird die Trennschärfe schwierig. Dazu gehört im Grunde alles, was den Allgemeinzustand betrifft. Wir hatten vorhin Diabetologie, Kardiologie, Nephrologie – alles Dinge, die durch eine zahnärztliche Mitbehandlung deutlich weniger hart manifestieren können. Das ist ein riesiges Gebiet. Es würde den Rahmen dieses Interviews sprengen, diese Frage hier vollumfänglich beantworten zu wollen.

Matthias Tröltzsch: Der Zahnarzt muss sich als Oralmediziner verstehen, der sich auch so wahrnehmen lässt, und nicht als Dentist, der sich um die supragingivale Veränderung kümmert. Da sind wir in Europa noch in den Kinderschuhen. In den USA ist man schon weiter. Bestes Beispiel ist die Schlafmedizin – auch in der Leitliniendiskussion, an der nicht nur HNO-Ärzte teilnehmen, sondern regelmäßig auch Zahnmediziner. Da müssen wir in Europa noch viel tun, damit die Humanmediziner die Zahnmedizin als eigenständiges, lebendiges und wichtiges Fach wahrnehmen. Wichtig ist meines Erachtens auch, dass die Zahnmediziner dies auch annehmen.

BZB: Neben der Anatomie und der Physiologie widmen Sie sich in Ihrem Buch auch der Pharmakologie. Welchen Stellenwert hat oder sollte das Wissen um die Wirkungsweise von Medikamenten in der zahnärztlichen Behandlung haben?

Matthias Tröltzsch: In der Zahnmedizin nimmt die Pharmakologie ein absolutes Nischendasein ein. Es gibt vielleicht ein bis zwei Vorlesungen im Semester. Das ist bei diesem Themenkomplex nicht genug. Wir fangen in den Kursen, die wir dazu geben, mit den Grundlagen an. Wie wirken Medikamente generell, in Tablettenform, intravenös, in welcher Menge etc.? Wir stellen fest, dass bestimmte Wirkstoffe verschrieben werden, weil das mal gelernt oder gelesen wurde. Vielen ist auch nicht bekannt, dass man sich am Gewicht orientieren muss und dass man nicht eine Standarddosis mit der Gießkanne verschreiben kann. Gerade bei Antibiotika ist das Problem unserer Tage, dass wir zwar viel über Viren sprechen, aber die Bakterien immer resistenter werden und wir eine ganz gefährliche Welle vor uns haben. Wissenschaft und Forschung gehen nicht schnell genug mit. Wir kommen an die Grenzen der Antibiotikatherapie. Es gibt viele Keime, die bereits jetzt gegen sämtliche Antibiotika resistent sind. Diese Resistenzen sind durch unsachgemäßen und zu häufigen Einsatz entstanden. Stichwort: Antibiotic Stewardship. Man muss also genau verstehen, warum man was gibt, wie lange und in welcher Indikation, sonst wird man diese Welle nicht mehr brechen können. Das ist sicher das prägnanteste Beispiel. Analgetika beispielsweise, die wir im täglichen Leben einsetzen, sind für die Zahnmedizin sicher besonders relevant. Wir brauchen Wissen über die gesamte Bandbreite der Wirkstoffe.

BZB: Können Sie konkrete Beispiele nennen, welche Erkrankungen und deren Behandlung durch Medikamente direkte Auswirkungen auf die Mundgesundheit haben und was der Zahnarzt dabei beachten muss?

Matthias Tröltzsch: Eine abgedroschene Geschichte ist natürlich alles, was mit Knochenstoffwechsel und Antiresorptiva zu tun hat. Da wissen auch alle ziemlich gut Bescheid. Zwei Themenbereiche, wo besonders große Unsicherheit herrscht, sind einmal der Kreis der Rheumatoide. Bei den rheumatologischen Erkrankungen gibt es viele neue Medikamente: Biologika, Antikörper, niedermolekulare Wirkstoffe. Hier kann man kaum mithalten, selbst wenn man sich dafür interessiert. Der andere Kreis ist die Psychopharmakotherapie, bei Depressionen beispielsweise, weil es eben Wechselwirkungen gibt zwischen den klassischen Antidepressiva, die die Serotonin-Wiederaufnahme hemmen, und dem Knochenstoffwechsel. Es gibt Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, die gastrointestinal wirken, und dem Knochenstoffwechsel.

Markus Tröltzsch: Man kann auch noch einen Schritt weiter gehen. Zu den Medikamenten im analgetischen Bereich: Wenn wir Schmerzmittel verschreiben, ist das ziemlich häufig Ibuprofen. Kaum einer weiß, dass Cardio-Ass, die Wirkung des Aspirins, ausfällt, wenn der Patient gleichzeitig Aspirin nimmt. Wir müssen also einen zeitlichen Abstand einhalten, um mit beiden Medikamenten arbeiten zu können.

BZB: In einer frühen Phase der Pandemie haben Sie den Umgang mit COVID-19 für das zahnärztliche Team beschrieben. Woher kommt Ihr Wissen über den Infektionsschutz?

Markus Tröltzsch: Wir haben früh damit angefangen, uns fit zu machen, weil wir die Coronawelle haben anrollen sehen. Im Februar 2020 waren wir noch in Chicago und haben mit italienischen Freunden diskutiert – da war in Italien die Welle bereits am Laufen. Wir haben gemerkt, dass bereits viel Evidenz aus der SARS-Welle vorhanden ist. Die erste SARS-Welle war 2003, und dementsprechend hatten wir es auch mit einem Coronavirus zu tun. So konnten wir uns auf die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen.

BZB: In einem Interview zu Beginn der Pandemie haben Sie, Herr Dr. Dr. Markus Tröltzsch, davon gesprochen, dass der Zahnarzt der Facharzt für die Mundhöhle ist. Muss aus Ihrer Sicht die Zahnmedizin näher an die Medizin heranrücken, und wie muss man sich das vorstellen?

Markus Tröltzsch: Beide Seiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Wo kommt dieses Denken eigentlich her, dass die Oralmedizin aus vielen medizinischen Bereichen ausgeklammert wird? Das kommt wohl auch aus der Historie heraus, wie die unterschiedlichen Fächer sich entwickelt haben. Die medizinischen Fächer hatten eigentlich seit 1280 bereits einen universitären Status, während die Zahnmedizin mal universitär war, aber sich die meiste Zeit auf Jahrmärkten entwickelt hat. Standesantipathien bestehen also schon lange. An der Tatsache, dass wir so lange brauchen, um Barrieren im Kopf abzubauen, kann man sehen, welche Gewohnheitstiere Menschen sind. Es gibt einen weiteren Aspekt: Die Medizin in der Mundhöhle unterscheidet sich ganz erheblich von der Medizin in der Bauchhöhle, um nur ein Beispiel zu nennen. Wir haben ganz andere Organellen, die da herumsausen. Daher ist ein sehr spezifisches und auch handwerkliches Wissen nötig, was aus meiner Sicht ein positiver Aspekt ist. Wir haben im Mundbereich eigene Krankheitsbilder, die in der übrigen Medizin so nicht vorkommen. In einer Zeit, in der Menschen immer älter werden und einen gewissen Lebensstandard pflegen wollen, kommen wir in Bereiche, wo Auswirkungen aus dem Mund im gesamten Organismus spürbar sind – und andersherum. Die Entwicklung der Zahnmedizin muss Richtung „Facharzt der Mundhöhle“ gehen, ohne aber den handwerklichen Bereich zu vernachlässigen.

BZB: Welche Bedeutung sollte die Medizin aus Ihrer Sicht in Zukunft in jeder Zahnarztpraxis haben?

Markus Tröltzsch: Wie sieht denn der Patient 2030 aus – vorausgesetzt wir haben noch ein Gesundheitssystem, das mit dem heutigen vergleichbar ist? Es ist schwierig, vorauszusehen, wo wir in einigen Jahren stehen – eingedenk der politischen Rahmenbedingungen, die sich schnell ändern können. Wenn wir uns anschauen, was in Großbritannien mit dem NHS passiert, und in Schweden genauso, so muss man doch feststellen, dass das System einen ganz erheblichen Impact auf die Versorgung der Patienten hat. Wenn sich das System in Deutschland hält, also auf dem Niveau bleibt, auf dem wir uns jetzt befinden, dann wird die Fragestellung sein, wie Patienten, die eine Co-Morbidität mitbringen und hohe medizinische Ansprüche haben, in der Zahnarztpraxis betreut werden können. Hier wird immer mehr ein medizinisches Screening notwendig sein. Dabei geht es nicht um das gesamte medizinische Spektrum, sondern um die Bereiche, in der kritische Erkrankungen bekannt sind, die gehören meines Erachtens künftig zu einer Erstaufnahme dazu. Das ist natürlich mit dem aktuellen Finanzrahmen nicht abbildbar. Eine Zahnarztpraxis muss wirtschaftlich arbeiten. Mit der momentanen Honorierung ist daran leider nicht zu denken.

BZB: Vielen Dank für das interessante Gespräch!

Das Interview führte die Fachjournalistin Anita Wuttke aus München.