Impressionen aus dem „Selam“.
Foto: © privat

„Mit vollen Herzen und leeren Koffern“

Dr. Gretel Evers-Lang über ihren Einsatz in einem äthiopischen Kinderdorf

Die Zahnstation im Kinderdorf „Selam“ in Addis Abeba ist eine echte Erfolgsgeschichte. Begonnen hat sie 2014, als der Verein „Zahnärzte helfen e.V.“ eine mobile Behandlungseinheit nach Äthiopien brachte. Mittlerweile ist daraus eine komplett ausgestatte Praxis samt OPG geworden. Regelmäßig reisen deutsche Zahnärzte nach Addis Abeba und behandeln unentgeltlich die Kinder, Lehrer und Mitarbeiter des Selam. Eine von ihnen ist Dr. Gretel Evers-Lang, die ihre Eindrücke in einem sehr persönlichen Erfahrungsbericht zusammengefasst hat.

Wieder am Flughafen Frankfurt am Main. Wieder am Abend, wieder ein Nachtflug, wieder ein Einsatz. Meine letzte Reise, Nepal, lag kaum drei Monate zurück, eine dental clinic in den Mittelgebirgen. Diesmal geht es nach Afrika, immerhin wenig Zeitverschiebung, diesmal nahe der Hauptstadt Addis Abeba, ein Kinderdorf nach dem bekannten Modell, errichtet vor fast 40 Jahren von einer Schweizerin, in einer Zeit, als im deutschen Fernsehen Bilder von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen als Inbegriff der Hungersnot der frühen 1980er-Jahre kursierten. Zahai Röschli, selbst ehemals äthiopisches Waisenkind, war seinerzeit von einem schweizerischen Ehepaar adoptiert worden, die Geschichte ist nachzulesen im Internet (siehe Kasten).

© privat

In Addis Abeba angekommen treffe ich sogleich auf Bianca, die ich 2024 bei meinem Einsatz in Namibia kennengelernt habe und die sich bereit erklärt hat, mich als Assistentin zu unterstützen, was sich als ganz wunderbar herausstellen wird. Dann, vor dem Flughafen, die unbekannte Welt. Zum Glück empfängt uns die liebe Zahai persönlich mit einem hinreichend großen Fahrzeug, das auch Platz genug für unsere vier spendenvollen Koffer vorhält.

Die Stadt offenbart sich als aufstrebende Metropole mit ambitionierter Bautätigkeit. Große Grünflächen zerteilen sechsspurige Stadtautobahnen, auf denen europäische Verkehrsregeln bestenfalls als fakultativ angesehen werden. Baulich getrennt angelegte, asphaltierte Fahrradwege, wenngleich noch ungenutzt, lassen erahnen, in welche Richtung sich die Stadt entwickeln will. Zur Stunde jedoch mischen sich hochmoderne Elektrogroßraumbusse und bunt geschmückte Vehikel, denen die Fahrtüchtigkeit in unserem Land längst entzogen worden wäre.

Immerhin, die blaue TukTuk-Flotte und die Pferde- und Eselkarren sind der Stadt verwiesen worden, aber auf den Landstraßen immer noch regelmäßig, neben anderen tierischen Überraschungen (Ziegen, Kühe, Marabus …), anzutreffen.

Nach etwa 25 Minuten Fahrt erreichen wir die Pforte des Kinderdorfes. Dahinter eine geordnete Welt, geprägt von tiefreligiöser Geisteshaltung, Nächstenliebe und Fleiß. Das Guesthouse, in dem wir unterkommen, ist ebenfalls eingezäunt und umgeben von einem gepflegten Garten mit Terrasse und Sitzgelegenheiten. Später werden wir herausfinden, dass der Zaun uns vor den Hyänen schützt, die in der Dunkelheit kaum 15 Meter vom Haus entfernt zu hören (und zu sehen) sind.

© privat

Die fußläufig entfernte medizinische Station, ein stabiles Gebäude mit Untersuchungs- und Büroräumen, überdachten Wartebereichen und einem sauber aufgeräumten Karteikartenzimmer überrascht uns mit einem hochmodernen und nagelneuen digitalen Großröntgengerät (OPG) sowie einem über die gesamte Dauer unseres Einsatzes sehr zuverlässig funktionierenden Behandlungsstuhl. Der Tageslichtraum ist hell und freundlich, die Materialien übersichtlich sortiert. Das Herz der dental clinic jedoch ist Sintayehu, eine zahnmedizinsche Fachassistentin, wie sie sich jeder für seine oder ihre Praxis wünschen würde: warmherzig und klug, wissbegierig, unermüdlich. An ihrem freien Tag steht sie acht Stunden mit uns in der Praxis und unterstützt uns bei der Organisation der Reihenuntersuchung aller Kinderdorffamilien, denn auch die Kinder haben am ersten Mai schulfrei. An diesem Tag versiegeln wir Zähne im Akkord, Sinta wird künftig diese Aufgabe übernehmen können.

Nach kurzer Orientierung fangen wir gleich am Ankunftstag mit der Arbeit an, davon gibt es reichlich. Das Behandlungsspektrum umfasst „das Übliche“: schmerzende, pulpitische Zähne, Extraktionen, behinderter Durchbruch bleibender Zähne bei persistierenden Milchzähnen wegen Engstandes, kieferorthopädische Fehlstellungen, insbesondere offene Bisse und Kreuzbisse im Frontzahnbereich, ausgelöst sehr wahrscheinlich durch schädliche Gewohnheiten wie Daumenlutschen.

Auch Parodontitis ist ein Thema, so mancher Wunsch nach Zahnreinigung entpuppt sich schon bei der Geruchsprobe als floride, behandlungsbedürftige PA. Nicht jedem Wunsch kann entsprochen werden, zuweilen ist die Hoffnung auf einen „neuen“ Zahn bei vereitertem verbliebenem Wurzelrest nicht zu erfüllen. Jedoch können dank von mir mitgebrachter Silberfluoridlösung (Riva Star) einige tief zerstörte Milchzähne in situ verbleiben, und auch monolithische Zirkonbrücken sind mit digitaler Abformung und zuverlässigen Versandwegen aus Deutschland (Danke an „Dental Direkt“) möglich.

© privat

Der Arbeitstag wird von Tag zu Tag länger, schier läuft uns die Zeit davon, allem Bedarf nach Behandlung gerecht zu werden, wir verzichten auf die Mittagspause und verlassen die Klinik als Letzte, das Klinikpersonal versorgt uns liebevoll mit frisch gebrühtem Kaffee und Obsttellern. Das Screening der Kinderdorffamilien schaffen wir in der Kürze der Zeit nur, weil wir einen längst verräumten Behandlungsklappstuhl aus den ersten Tagen der dental clinic reaktivieren und so gleichzeitig je zwei Kinder aus einer Kinderdorffamilie untersuchen können. Kleine Präsente, mitgebrachte Kuscheltierchen, Zahnbürsten oder Kinderzahncreme, manchmal auch nur ein Luftballon, motivieren selbst die Kleinsten, den Mund aufzumachen. Der großzügigen Spende eines Sportartikelhändlers haben wir es zu verdanken, dass Bianca jeder Kinderdorffamilie einen professionellen Fußball überreichen kann, was in einem Land, wo die verwendeten „Fußbälle“ eher wie eine Plastikflasche aussehen, für Aufsehen und Begeisterung sorgt.

Besondere Freude macht uns der Besuch der daycare-Kinder, die Zwei- bis Vierjährigen werden im Kinderdorf betreut, damit ihre zumeist mittellosen und alleinerziehenden Mütter währenddessen einer Arbeit nachgehen und so die Kinder dauerhaft bei ihren Müttern verbleiben können. Eine Reihenuntersuchung bei rund 80 der 160 Kinder belohnen wir mit mitgebrachten Kuscheltieren (Spenden meiner Patienten und Mitarbeiterinnen) und Kinderkleidung aus Biancas Freundeskreis. Belohnt werden wir mit herzlichen Umarmungen und feuchten Küssen.

Mit vollen Herzen und leeren Koffern reisen wir viele verabreichte Füllungen und gezogene Zähne später wieder heim. Wir lassen Menschen zurück, die uns Vertrauen geschenkt und Einblicke in ihr Leben gewährt haben. Und einmal mehr ist mir klar, was für ein Privileg es ist, diese Arbeit an Menschen tun zu dürfen.

Dr. Gretel Evers-Lang


Der Verein “Äthiopische Kinderhilfe SELAM e. V.”, gegründet am 4. Februar 1995, ist eine humanitäre Hilfsorganisation, die notdürftige Kinder und Jugendliche in Äthiopien unter- stützt und fördert. Ein wesentlicher Teil der Hilfe geht an das Selam Children’s Village in Addis Abeba.

Kontakt:
Äthiopische Kinderhilfe SELAM e. V.
Dr. Stefan Böhm
Tel: +49 1511 2195371
kinderhilfe.aethiopien@gmx.de
Weitere Informationen unter https://selam-aethiopien.de/