Der „Compact Wheelchair Recliner“ erleichtert die Behandlung von Patienten mit schwerer Behinderung.
Foto: LMU München

Mit Herz, Verstand – und Respekt

Zehn Jahre Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung an der LMU München

Mit der Eröffnung einer zahnärztlichen Einrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung im April 2012 konnte die Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie des Klinikums der Universität München (LMU) eine wichtige Versorgungslücke schließen. Die Initiative für diese deutschlandweit einmalige Einrichtung an einer staatlichen Universität ging von Prof. Dr. Reinhard Hickel, dem Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, aus.

Auf über 250 Quadratmetern werden an der LMU Patienten, die auf eine spezielle zahnärztliche Versorgung angewiesen sind, von einem Team aus Zahnärzten und Zahnmedizinischen Fachangestellten zahnmedizinisch versorgt und betreut. Von Beginn an konnte die „Goethe 72“, deren Namensgebung auf ihrem Standort in der Goethestraße beruht, einen regen Zuwachs an Patienten verzeichnen.

Versorgungsanfragen aus anderen Bundesländern und das große Einzugsgebiet der Klinik zeigen, dass eine flächendeckende Versorgung für diese Patientengruppe nach wie vor nicht existiert. Ein Grund, warum der zahnärztliche Sanierungsbedarf bei Menschen mit Behinderung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung höher ist.

Heterogene Patientengruppe

Nicht nur hinsichtlich des Ausprägungsgrades der Behinderung handelt es sich bei Menschen mit Behinderung um eine sehr heterogene Gruppe. Die mit der Behinderung einhergehenden Einschränkungen und Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich und bedürfen einer individuellen und differenzierten Betrachtung. So ist beispielsweise der Umgang mit Menschen, bei denen eine geistige Behinderung vorliegt, ein anderer als mit jenen, bei denen die Behinderung rein körperlich ausgeprägt ist. Entsprechend muss auch das zahnärztliche Setting und Vorgehen individualspezifisch angepasst werden.

Die Ursachen für das Vorliegen einer Behinderung sind ebenfalls verschiedenartig. Viele Patienten haben eine angeborene Behinderung, bei einem Großteil der Patienten ist die Behinderung jedoch im Laufe des Lebens durch eine Krankheit eingetreten. Auch Unfälle können ursächlich sein und das Leben der Betroffenen und Angehörigen von einem auf den anderen Tag drastisch verändern. Die Studentin, die nach einem Sportunfall querschnittsgelähmt ist, der beim Motorradfahren verunglückte junge Mann mit schwerstem Schädel-Hirn-Trauma oder der Familienvater mit Amyotropher Lateralsklerose, bei dem eine verbale Kommunikation nicht mehr möglich ist, weil die Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium bereits zum Sprachverlust geführt hat – all das sind Beispiele für schwerwiegende Beeinträchtigungen im Alltag, die durch eine Behinderung hervorgerufen werden. Viele Betroffene leiden unter Schicksalsschlägen, die auch das zahnärztliche Behandlungsteam emotional immer wieder herausfordern und einen professionellen Umgang mit Nähe und Distanz erfordern. Ein geschultes und hochmotiviertes Team, das Einfühlungsvermögen zeigt, aber auch keine Berührungsängste hat, sich um die Bedürfnisse von Patienten mit schwerer und schwerster Pflegebedürftigkeit zu kümmern, trägt dazu bei, dass eine zahnärztliche Behandlung trotz aller Erschwernisse erfolgreich ablaufen kann.

Das zahnärztliche Behandlungsspektrum unterscheidet sich nicht wesentlich zu dem von Menschen ohne Behinderung. Ziel ist immer eine hochwertige zahnmedizinische Versorgung. Dabei muss sich die Therapie stets an den Bedürfnissen und vorhandenen Kapazitäten des Patienten orientieren. Toleriert der Patient eine längere Behandlungssitzung am Stuhl? Kann er eigenverantwortlich für seine Zahn- und Mundhygiene aufkommen oder benötigt er hierbei Unterstützung? Kann der Patient eigenständig in die Behandlung einwilligen oder muss dafür ein gesetzlicher Betreuer involviert werden? Fragen wie diese müssen bereits im Vorfeld einer Behandlung geklärt sein.

Die Kooperationsbereitschaft des Patienten ist ein entscheidender Faktor bei der Behandlung von Menschen mit Behinderung. © LMU München

Zahnärztliches Zuhause

Viele Patienten suchen die „Goethe 72“ seit der Eröffnung vor zehn Jahren regelmäßig auf. Keine selbstverständliche Routine, wie es der Zahnarztbesuch bei Menschen ohne Behinderung ist. Da die Zuständigkeit des Kinderzahnarztes in der Regel mit Vollendung des 18. Lebensjahres endet, haben viele Patienten mit Behinderung im Erwachsenenalter Schwierigkeiten, ein neues zahnärztliches Zuhause zu finden. Neben den räumlichen Anforderungen, die einen barrierefreien oder zumindest einen barrierearmen Zugang für Patienten mit eingeschränkter Mobilität erfüllen müssen, gibt es weitere Voraussetzungen, an die eine Behandlung von Menschen mit Behinderung geknüpft ist. Ein großzügiges Zeitfenster muss für die Behandlung auf dem Zahnarztstuhl zur Verfügung stehen, um die vielfältigen Herausforderungen zu meistern. Diese können von Ängsten, fehlender Behandlungseinsicht, Kommunikationsbarrieren bis hin zu Schluckstörungen und starken Würgereflexen reichen. Eine schrittweise Adaption an eine Behandlung und die konsequente Anwendung verschiedener verbaler und nonverbaler Techniken aus der Verhaltensführung und Kommunikationsstrategien lassen in vielen Fällen eine Behandlung im Wachzustand zu. Die Kooperationsbereitschaft des Patienten ist kein statischer Zustand, sondern kann positiv beeinflusst und gefördert werden. Eine wichtige Erkenntnis, die sich nach zehn Jahren Erfahrung bei der Behandlung von Menschen mit Behinderung immer wieder bestätigt hat.

Seit letztem Jahr erleichtert ein „Compact Wheelchair Recliner“ die Behandlung von Patienten, bei denen ein Transfer auf die Behandlungsliege nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht möglich ist. Mithilfe dieser speziellen Vorrichtung können Patienten direkt in ihrem Rollstuhl behandelt werden, was den Komfort für die Patienten verbessert und gleichzeitig dem zahnärztlichen Behandlungsteam ein Arbeiten unter ergonomischen Aspekten ermöglicht.

Auch wenn sich mit Einführung von § 22a SGB V und der neuen PAR-Richtlinie der Anspruch von vulnerablen Patientengruppen auf eine gleichwertige zahnmedizinische Versorgung verbessert hat, ist der große zeitliche und personelle Mehraufwand bei einer zahnärztlichen Behandlung in der Praxis im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen nicht abgebildet. Hinzu kommt, dass das Studium der Zahnmedizin die Studierenden bisher nicht oder nur unzureichend auf die Behandlung dieser Patientengruppe vorbereitet hat. Berührungsängste, die auch aus einem Erfahrungsmangel resultieren, führen dazu, dass die Patienten häufiger in Vollnarkose behandelt werden, ohne dass Behandlungsversuche am Stuhl stattgefunden haben.

Neue Approbationsordnung macht Hoffnung

Mit der Einführung der neuen Approbationsordnung für Zahnärzte im vergangenen Jahr ist der Mensch mit besonderem Unterstützungsbedarf jetzt auch Lehrinhalt im Studium. Erste interne Evaluationsergebnisse zeigen, dass die Studierenden ein großes Interesse für die Besonderheiten und Herausforderungen im Umgang mit vulnerablen Patientengruppen zeigen. Es bleibt zu hoffen, dass sich durch die verbesserten Ausbildungsbedingungen auf diesem Gebiet auch die Versorgungsqualität der betroffenen Patienten zukünftig verbessern wird.

Dr. Marc Auerbacher
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der LMU München