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Ist die Budgetierung verfassungswidrig?

Gutachten fordert angemessene Honorierung erbrachter Leistungen

Die Budgetierung der meisten zahnmedizinischen Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist nicht nur politisch umstritten. Ein neues Gutachten des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) sieht durch dieses Steuerungsinstrument Grundrechte gefährdet. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Gutachtens auf der Parodontitis-Therapie. Die Auswirkungen auf andere Leistungsbereiche, die für die Wirtschaftlichkeit der Praxen eine viel größere Rolle spielen, wurden nicht untersucht.

Das Ergebnis der Studie ist eindeutig: Die durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) vorgenommene Vergütungsbeschränkung (I.) und die damit einhergehende Mittelbegrenzung für die Parodontitis-Therapie ist verfassungswidrig. Die Vergütungsbegrenzungen verletzten niedergelassene Vertragszahnärzte in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG (II.) sowie in ihrem durch Art. 14 GG geschützten Grundrecht der Eigentumsfreiheit (III.). Nicht nur die Vertragszahnärzte bekommen die Auswirkungen negativ zu spüren, auch die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten werden mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, einen vollen Krankenversicherungsschutz zu erhalten (IV.). Schließlich wirft die Studie die Frage auf, ob der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausreichend gerecht wird, wenn durch die Zunahme von Praxisschließungen eine flächendeckende vertragszahnärztliche Versorgung in Gefahr steht (V). Die Studie endet mit einem lösungsorientierten Vorschlag einer Gesetzesänderung und verfassungskonformen Auslegung der in § 85 Abs. 2d SGB V und § 85 Abs. 3a SGB V geregelten Vergütungsbegrenzungen (VI.).

I. Gesetzlicher Hintergrund: Das GKV-FinStG

Mit § 85 Abs. 2d SGB V und § 85 Abs. 3a SGB V wird – zumindest für die Jahre 2023 und 2024 – wieder eine strikte Budgetierung der zahnärztlichen Gesamtvergütung eingeführt. Mit § 85 Abs. 2d SGB V wird die Anhebung der Punktwerte und mit § 85 Abs. 3a SGB V der Anstieg der Gesamtvergütung für vertragszahnärztliche Leistungen für die Jahre 2023 und 2024 begrenzt.

II. Verstoß gegen die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG

Vertragszahnärzte können sich auf das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG berufen. Die Berufsfreiheit umfasst auch die für unternehmerische Betätigung bedeutsame Wettbewerbsfreiheit, die eng einhergeht mit der Vertrags- und Preisfreiheit. Diese Freiheiten werden für Vertragszahnärzte infolge des Sachleistungsprinzips der GKV systembedingt bereits stark eingeschränkt.

Die Argumentation der Studie lautet wie folgt: Durch die Einführung der Budgetierung der Gesamtvergütung für vertragszahnärztliche Leistungen und der in diesem Zusammenhang nicht hinreichend berücksichtigten PAR-Richtlinie werde auf die Berufsfreiheit in besonders schwerwiegender Weise eingegriffen. Die Regelungen des GKV-FinStG nehme den Zahnärzten die Planungssicherheit; 11 von 17 Praxen erhielten Honorarkürzungen für das Abrechnungsjahr 2023. Infolge von steigender Inflation und höheren Betriebskosten sei gerade im ländlichen Raum oder in strukturschwachen Regionen mit Praxisschließungen zu rechnen.

Die Budgetierung beeinflusst also nicht nur das „Wie“ der Berufsausübung (z. B. Preis- und Vertragsfreiheit), sondern auch das „Ob“ (Kann die Praxis in der Zukunft fortgeführt werden?). Solche juristisch korrekt benannten „objektiven Berufswahlbeschränkungen“ können nur unter sehr strengen Voraussetzungen gerechtfertigt werden. „An den Nachweis der Notwendigkeit einer solchen Freiheitsbeschränkung [sind] besonders strenge Anforderungen zu stellen (…); im Allgemeinen wird nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diesen Eingriff (…) legitimieren können.“

Für die Rechtfertigung des Eingriffes ist also die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut erforderlich. Die Studie stellt dar, dass die Ausführungen der Gesetzesbegründung des GKV-FinStG für die Rechtfertigung der Budgetierung argumentativ angreifbar sind. So werde sich einzig auf die „finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ als Ziel des GKV-FinStG berufen. Zwar werde die „finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenkassen“ oder „die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“, auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, als „eine Gemeinwohlaufgabe“ bezeichnet, jedoch ohne weitere Begründung. Dennoch werde diese stereotyp wiederholte Formel oft zur Rechtfertigung erheblicher Grundrechtseingriffe verwendet. In der juristischen Argumentation kommt dieser Worthülse dadurch Verfassungsrangs zu, welche ihr nach dem Grundgesetz jedoch eindeutig nicht gebühre. Das Gutachten hebt hervor, dass die Ausgaben für die vertragszahnärztliche Versorgung im Verhältnis zu den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken sei und damit keine hinreichend konkreten und gewichtigen Gründe für die Vergütungsbeschränkungen bestünden, da keine schwere Gefahr für „die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenkassen“ bestehe. Die Studie kommt daher zu dem Schluss, dass der Eingriff durch die § 85 Abs. 2d und Abs. 3a SGB V – ohne eine im Hinblick auf die Parodontitis-Therapie einschränkende Auslegung – in die Berufsfreiheit von Vertragszahnärzten nicht gerechtfertigt und damit verfassungswidrig ist.

III. Eigentumsfreiheit Art. 14 Abs. 1 GG

Vertragszahnärzte können sich zudem auf das durch die Eigentumsfreiheit in Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsinstitut des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs berufen. Es bietet einen Schutz des Betriebseigentums und einen „Schutz dagegen, dass Investitionen in das Eigentum durch Rechtsänderungen entwertet werden (…)“, mithin also einen Vertrauensschutz in getätigte Investitionen.

Das Gutachten prognostiziert, dass die durch § 85 Abs. 2d und Abs. 3a SGB V bedingten Honorarkürzungen nicht nur zu einem geringeren Verkehrswert der Praxen führen, sondern auch Praxisübergaben erschweren werden. Zudem dürften viele Vertragszahnärzte im Vertrauen auf die durch die neue PAR-Richtlinie vorgenommene Ausweitung des Leistungskatalogs Dispositionen getätigt haben.

Die Studie stellt daher fest, dass die Vergütungsbegrenzungen in Zusammenhang mit der PAR-Richtlinie einen ungerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit darstellen und damit auch aus diesem Grund verfassungswidrig seien.

IV. Negative Auswirkungen auf gesetzlich Krankenversicherte

Nicht nur die Vertragszahnärzte sind in ihren Grundrechten beeinträchtigt, sondern auch die GKV-Versicherten. Durch die Einführung der Budgetierung vertragszahnärztlicher Leistungen werde auch der Leistungsanspruch der Versicherten „faktisch rationiert“ und damit die Bekämpfung der Parodontitis stark eingeschränkt. So gingen bei einer unverändert hohen Krankheitslast (ca. 30 Millionen Menschen) im ersten Halbjahr 2023 die Neubehandlungsfälle für die PAR-Behandlungsstrecke signifikant zurück.

V. Staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

Mit den Grundrechten des Einzelnen korrespondiert eine Pflicht des Staates, den Einzelnen zu schützen. Diese staatliche Schutzpflicht wird aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hergeleitet. Diese Schutzpflicht ist umso umfassender, je größer die Gefahr ist und je mehr Menschen von dieser betroffen sind.

Da die Parodontitis weitere schwere Erkrankungen zur Folge haben kann, ist das Schutzgut Leben betroffen. Aufgrund der nicht unerheblichen Anzahl an Parodontitis-Erkrankungen besteht daher eine umfassende Schutzpflicht des Staates. Die Studie sieht den Staat in zweierlei Hinsicht in der Pflicht: Zum einen begründe das mit der Einführung der strikten Budgetierung der Gesamtvergütung vertragszahnärztlicher Leistung geschaffene Risiko von vermehrten Praxisschließungen im ländlichen oder strukturschwachen Raum die Gefahr einer Unterversorgung. Zum anderen sei zu befürchten, dass sich die Versorgung bei der Parodontitis im Jahr 2024 halbieren werde, sodass von einem effektiven und zeitnahen Zugang zu einer vertragszahnärztlichen Versorgung nicht mehr die Rede sein könne.

VI. Lösungsansatz: Gesetzesänderung und verfassungskonforme Auslegung

Nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Vergütungsbegrenzungen schlägt die Studie eine Gesetzesänderung dergestalt vor, dass die Vergütungsbegrenzungen in § 85 Abs. 2d Satz 2 und 3a Satz 3 SGB V für alle Parodontitis-Behandlungen nicht zur Anwendung kommen. Alternativ sollten die Gesamtvertragspartner bis zu einer Gesetzesänderung die maßgeblichen Vorschriften verfassungskonform auslegen und anwenden. Konkret bedeutet das, dass in den Jahren 2023 und 2024 vorzunehmende Folgebehandlungen nicht unter die Vergütungsbegrenzungen aus § 85 Abs. 2d und Abs. 3a SGB V fallen.

Jennifer Alpman, LL.M Syndikusrechtsanwältin