SPD hält an Bürgerversicherung fest – Grüne taktieren
Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und die Wiedereinführung der Budgetierung sorgen für Wut und Frust in den Zahnarztpraxen. Aber es könnte noch schlimmer kommen. Denn die SPD hält unbeirrt an der Bürgerversicherung fest.
Ende August legte die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier vor, in dem sie sich ausdrücklich zur Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung (GKV und PKV) bekennt. „Wir halten an unserem Ziel einer umfassenden Bürgerversicherung fest, in der alle versichert sein sollen.“ Die Menschen in Deutschland müssten sich auf eine funktionierende Gesundheitsversorgung und Pflege verlassen können. Und dieses Ziel lässt sich aus Sicht der SPD nicht durch eine „starke Orientierung an Marktkräften, verbunden mit Gewinnmaximierung und dem Abschöpfen von Renditen“ erreichen. Vielmehr müssten Effizienzreserven gehoben und nachhaltige Finanzierungswege beschritten werden. So wie der Bundesgesundheitsminister schließt auch die SPD-Fraktion Leistungskürzungen aus. Um das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren, schlagen die Sozialdemokraten eine vollständige Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln vor – und zielen damit auf einen Minister aus ihren eigenen Reihen. Denn einer der größten Posten bei den versicherungsfremden Leistungen ist die Krankenversicherung von Bürgergeldempfängern. Die Bundesagentur für Arbeit überweist den Kassen aktuell 140,03 Euro im Monat (inklusive Pflegeversicherung) pro Mitglied. Doch dieser Betrag ist bei Weitem nicht kostendeckend. Einer IGES-Studie zufolge lagen die durchschnittlichen Leistungsausgaben für einen ALG-II-Bezieher im Jahr 2021 bei 334 Euro. Insgesamt geben die Kassen rund zehn Milliarden mehr für Bürgergeldempfänger aus, als sie einnehmen.
Der GKV-Spitzenverband fordert seit Langem eine Erhöhung der Beiträge, doch die verweigert Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge könnte der Beitragssatz in der GKV um 2,2 Prozentpunkte sinken, wenn versicherungsfremde Leistungen, zu denen auch die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen zählt, vollumfänglich aus dem Steueraufkommen finanziert würden.
Welche Rolle spielen Flüchtlinge?
In der öffentlichen Debatte wird oft darauf verwiesen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen das GKV-Defizit erhöht habe. Das ist jedoch nur bei einer kurzfristigen Betrachtung zutreffend. Da überwiegend jüngere Menschen zuwandern, kann Migration sogar zu einer Entlastung des Sozialsystems führen. „Die Hoffnung besteht darin, dass mit zunehmender Integration dieser Menschen auch die Eingliederung in den Arbeitsmarkt gelingt und aus Hartz IV-Empfängern irgendwann sozialversicherungspflichtige Beschäftigte werden“, schreibt der PKV-Verband. Auch Doris Pfeiffer, Chefin des GKV-Spitzenverbandes, sieht in der Zuwanderung mehr Chancen als Risiken: „Da die zugewanderten Neumitglieder jünger sind als der Durchschnitt aller gesetzlich Versicherten und darüber hinaus auch noch weniger Leistungen in Anspruch nehmen als die gleichaltrigen bisherigen Versicherten, führen sie zu einem doppelten Entlastungseffekt. Sie stabilisierten die Finanzen und stoppten – zumindest vorübergehend – die Alterung der Mitglieder der GKV insgesamt.“ Diese Gleichung geht allerdings nur auf, wenn Migranten tatsächlich in den Arbeitsmarkt integriert werden können und wollen.
Ukrainer sind nicht die Hauptursache
Ein Sonderfall sind in diesem Zusammenhang Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Rund eine Million Schutzbedürftige kamen seit Beginn des Krieges nach Deutschland. Sie haben ab dem ersten Aufenthaltstag Anspruch auf eine GKV-Mitgliedschaft. DAK-Chef Andreas Storm schätzt die dadurch verursachten Mehrkosten auf rund eine Milliarde Euro. Das Defizit der GKV beträgt in diesem Jahr jedoch 17 Milliarden Euro. Ukrainische Flüchtlinge sind also nicht die Hauptursache für die Finanznot der Kassen. Dennoch wäre es auch hier dringend notwendig, die GKV-Beiträge an die tatsächlichen Kosten anzupassen.
Höhere Beitragsbemessungsgrenze
Zurück zur Bürgerversicherung: Die SPD ist fest davon überzeugt, dass die Einbeziehung von Beamten, Besserverdienern, Freiberuflern und Selbstständigen in eine „Einheitsversicherung“ die Probleme des Gesundheitswesens lösen würde. Unterstützung bekommt sie erwartungsgemäß von den Gewerkschaften. Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall, fordert die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Einbeziehung anderer Einkommensarten wie Kapitalerträge oder Mieteinnahmen.
12 Milliarden gehen verloren
Mit den Kollateralschäden befasst sich die SPD nicht. Ein Wegfall der PKV würde dem Gesundheitssystem schlagartig fast 12 Milliarden Euro entziehen. Der Jahresumsatz einer durchschnittlichen Arztpraxis würde sich um rund 60.000 Euro verringern. Deutschland könnte in Medizin und Zahnmedizin den Anschluss an die Weltspitze verlieren, wenn neue Verfahren oder Medikamente später zur Anwendung kommen.
Grüne wollen PKV nicht mehr abschaffen
Interessant ist die Positionierung der Grünen zur Bürgerversicherung. Anders als die SPD wollen sie die PKV nicht mehr komplett abschaffen. Allerdings sollen laut einem Positionspapier aus dem Jahr 2021 künftig alle Bürger einen einkommensabhängigen Beitrag in den Gesundheitsfonds einzahlen. Wer sich privat versichern will, soll einen Zuschuss aus eben jenem Fonds bekommen, der allerdings nicht kostendeckend ist. Für den PKV-Verband ein leicht durchschaubares Manöver: Privatversicherte sollen doppelt zahlen. Denn der durchschnittliche Beitrag für den Gesundheitsfonds würde 769 Euro betragen, der Zuschuss für die PKV 267 Euro. Die Differenz zum tatsächlichen Beitrag trägt der Versicherte. Im schlimmsten Fall könnte sich der Beitrag mehr als verdoppeln (siehe Grafik). Das könnte das faktische Aus für die PKV bedeuten und zwar ganz ohne ein entsprechendes Gesetz.
Fazit: Dass die Pläne für die Bürgerversicherung derzeit nicht weiterverfolgt werden, ist allein der Regierungsbeteiligung der FDP zu verdanken. Sollten SPD und Grüne zum Beispiel mit der Linkspartei eine politische Mehrheit erreichen, käme das Thema sehr schnell auf die politische Tagesordnung. Die Abschaffung der privaten Gebührenordnungen würde zu hohen Einnahmeausfällen in den Praxen führen, sofern sie nicht durch eine Anpassung der Punktwerte im Bema und im EBM kompensiert werden.
Leo Hofmeier