Politische Halbwertszeiten, wird gerne kritisiert, seien oft kurz – zu kurz. Gefragt und nötig ist vielmehr die so oft zitierte politische Weitsicht. „Weitsicht“ definiert der Duden als „Fähigkeit, vorauszublicken, frühzeitig künftige Entwicklungen und Erfordernisse zu erkennen und richtig einzuschätzen“. Diese Weitsicht lässt der jetzt von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf eines Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinStG) aus dem Hause Lauterbach klar vermissen.
Lauterbachs Blick geht dabei leider maximal bis ins kommende Jahr, in dem ein Defizit von mindestens 17 Milliarden Euro im GKV-System erwartet wird. Die Folgen des Russland-Ukraine-Krieges eingerechnet, prognostizieren einzelne Institute gar ein Defizit von bis zu 25 Milliarden Euro, das es zu beheben gilt. Darauf starrt Bundesminister Lauterbach wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange.
Der nach mehreren Anläufen jetzt dem Bundestag zur Beratung vorliegende Gesetzentwurf stellt einen fast schon verzweifelten Versuch dar, das zweistellige Milliarden-Loch im GKV-Finanzsystem irgendwie schließen zu können, ein Sammelsurium von offensichtlich unkoordinierten Maßnahmen, die in keiner Weise strukturelle, nachhaltig wirkende Lösungen zur dauerhaften Stabilisierung der GKV-Finanzen darstellen. Vielmehr werden wir dieselbe Diskussion in sechs bis acht Monaten wieder führen, wenn es um das Defizit für 2024 geht – dann allerdings in noch schärferer Form.
Dieser Gesetzentwurf führt zur Verunsicherung und zur Belastung aller Akteure im Gesundheitswesen: Von den zusätzlich geschröpften Beitragszahlern über die bis zum Existenzminimum gefederten Krankenkassen oder über die um ihre Zusatz-Honorierung für Neupatienten gebrachte ambulante Versorgung bis hin zu der noch stärker gemolkenen Pharmabranche. Sollte dieses Gesetz tatsächlich so kommen, ist für das GKV-System kaum etwas gewonnen, aber vieles für die Leistungserbringer und für die Versicherten verloren: Vertrauen, Qualität und Leistung.
Auch wenn Minister Lauterbach gebetsmühlenartig betont, es werde nicht zu Leistungskürzungen kommen, so stehen diese faktisch allein schon durch die geplante budgetierte Gesamtvergütung ins Haus. In der Konsequenz ist somit auch die in Jahren auf der Ebene der (zahn-)ärztlichen Selbstverwaltung mühsam erarbeitete neue Versorgungsstrecke bei der Parodontitistherapie ernsthaft in Gefahr. Parodontitis, eine immer noch unterschätzte Volkskrankheit, ist bekanntlich ursächlich für weitere Krankheiten und Symptome, die nicht nur Zahnweh verursachen. Mit der neuen, bahnbrechenden Parodontitistherapie, die nun eigentlich flächendeckend zur Anwendung kommen sollte, können schweren Allgemeinerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, ein erhöhtes Risiko für Schwangere, demenzielle Erkrankungen und sogar schwere Verläufe bei Infektionen mit dem Coronavirus von vorneherein vermieden werden. Auch natürlich ein vorzeitiger Zahnverlust. Auch hier fehlt Lauterbach und seinen Kabinettskollegen der Weitblick: Mit der Budgetierung auch der zahnärztlichen Leistungen ist diese sehr gute Therapiemöglichkeit für GKV-Patienten ernsthaft gefährdet. Wenn dieser politische Totalausfall im Bundesgesetzblatt steht, steht der Patient im schlimmsten Falle zahnlos vor der Praxis oder ratlos in der Notaufnahme. Nachhaltig ist das nicht.
Wirklich nachhaltige, strukturelle Änderungen am Finanzierungssystem der GKV, die der Verfasser Bundesminister Lauterbach per Brief vorgeschlagen hatte, wurden von seinem Staatssekretär Edgar Franke bereits schriftlich abgeschmettert. Zu solchen strukturellen Maßnahmen gehören für mich die sowieso schon vereinbarte Erhöhung der Bundeszuschüsse in die Krankenversicherung von ALG II-Beziehern und die Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel von 19 auf sieben Prozent, wie es in den meisten Ländern schon längst üblich ist. Auf Brot, Wurst und Käse zahle ich sieben Prozent Mehrwertsteuer, auf lebensnotwendige Medikamente aber 19 Prozent? Das ist nicht erklärbar. Allein mit diesen beiden Maßnahmen würde die GKV jährlich um etwa 16 Milliarden Euro entlastet, so Berechnungen des GKV-Spitzenverbandes. Dann könnten wir das Thema Leistungen für die Patienten wieder ganz anders angehen als jetzt. Außerdem müssen wir uns nach Überzeugung des Verfassers dringend Gedanken machen über die über die Jahre gewachsenen versicherungsfremden Leistungen, die die Solidargemeinschaft der GKV-Versicherten für die Allgemeinheit trägt.
Ob die kostenfreie Familienmitversicherung und andere soziale Leistungen für Nicht-Beitragszahler allein eben diese Beitragszahler zu stemmen haben und nicht der Staat als der für das universale Sozialsystem verantwortliche Akteur, muss mindestens ernsthaft diskutiert werden. Dazu fehlt der Ampelkoalition leider die Bereitschaft und wohl auch die Fantasie – die politische Weitsicht eben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich in den anstehenden parlamentarischen Beratungen mit aller Kraft dafür einsetzen, entsprechende strukturelle, nachhaltig wirkende und damit weitsichtige Änderungen durchzusetzen, die solch bahnbrechende und sinnvolle Behandlungen wie die neue Parodontitistherapie nicht gefährden.
Stephan Pilsinger, MdB