Ärzte und Zahnärzte sollten beim Verdachtsfall handeln und die Behörden einschalten, empfiehlt Ignaz Raab.
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Die Zusammenarbeit mit Ärzten und Zahnärzten ist sehr wichtig

Ignaz Raab über den Kampf gegen sexuelle Gewalt

Ignaz Raab ist ein erfahrener Polizist. Als Erster Kriminalhauptkommissar leitete er das K15 im Polizeipräsidium München, das für Sexualdelikte zuständig ist. Seit seiner Pensionierung engagiert er sich ehrenamtlich für den Opferschutz. Bei einer Online-Fortbildung der KZVB-Bezirksstellen München und Oberbayern informierte er darüber, welche Rolle Zahnärzte im Kampf gegen sexuelle Gewalt spielen können – vor allem, wenn es um Kinder geht.

BZB: Immer wieder erschüttern Missbrauchsskandale die Öffentlichkeit. Werden diese Fälle von den Medien aufgebauscht oder sind Sexualstraftaten mittlerweile häufiger als früher?

Raab: Statt von Sexualstraftaten spreche ich lieber von Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Diese beinhaltet der 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches, und zwar in den Paragrafen 174 bis 184 StGB. Laut der im März 2022 durch den Münchener Polizeipräsidenten Thomas Hampel veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistik waren Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahre 2021 in unserem Zuständigkeitsbereich (Stadt und Landkreis München) rückläufig. Es wurden 1 657 Fälle der Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt (Hellfeld!), was einen Rückgang von 2,8 Prozent gegenüber dem Jahr 2020 entspricht. Da waren es 1 705 Fälle.

BZB: Welche Rolle spielt das Internet bei der Vorbereitung und Durchführung solcher Taten?

Raab: Das Internet spielt vor allem bei der Verbreitung, dem Erwerb, dem Besitz und der Herstellung kinder- und jugendpornografischer Schriften eine immer größere Rolle. Die Fallzahlen steigen seit Jahren – sowohl in München als auch in Bayern und bundesweit. Die polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik weist hier für das Jahr 2021 folgende Fallzahlen auf:

• Verbreitung pornografischer Schriften 50 206 (+ 87,8 Prozent, + 23 467 Fälle), darunter
• Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornografischer Schriften (+ 108,8 Prozent, + 20 410 Fälle)
• Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung jugendpornografischer Schriften (+ 64,3 Prozent, + 1 998 Fälle)

BZB: Besonders abscheulich ist der sexuelle Missbrauch von Kindern. Sind sie häufiger betroffen als Erwachsene?

Raab: Leider ja. Laut polizeilicher Kriminalstatistik des Bundes wurden im Jahr 2021 bei Weitem mehr Missbrauchsdelikte zum Nachteil von Kindern angezeigt. Die Fallzahlen stellen sich wie folgt dar:

• Sexueller Missbrauch von Kindern 15 507 Fälle (+ 6,3 Prozent)
• Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff 9 903 Fälle (+ 1,5 Prozent)

BZB: Missbrauch scheint es in allen gesellschaftlichen Schichten zu geben. Oft werden die Täter als nett und unauffällig beschrieben. Was können Sie über das Täterprofil sagen?

Raab: Laut den Berufsverbänden für Psychiatrie ist sexueller Missbrauch in allen Gesellschaftsschichten zu finden. Es handelt sich hier keinesfalls um ein Problem der sozial Schwachen oder minder Gebildeten. Es lässt sich auch sonst keine einheitliche typische Täterpersönlichkeit aufzeigen. Oftmals handelt es sich um unauffällige und den herrschenden Normen angepasste Personen mittleren Alters, mit nach außen ganz normalem Familienleben. Der Beziehungstäter ist aber bei Weitem häufiger vertreten als der überfallartige Fremdtäter. Missbrauch findet überall dort statt, wo Kinder sind: in Familien, Schulen, Heimen, Vereinen und Institutionen. Hier versuchen pädosexuell veranlagte Täter mit Kindern in Kontakt zu kommen in Form von Aufmerksamkeiten und Zuwendungen. Der überfallartige Fremdtäter wie der sogenannte Wolfmaskentäter, der im Juni 2019 ein elfjähriges Mädchen in München-Obersendling auf dem Nachhauseweg von der Schule überfiel und vergewaltigte, ist bei Weiten in der Minderheit. Missbrauch findet vor allem im sozialen Nahbereich statt.

BZB: Wie kommt die Polizei den Tätern auf die Spur?

Raab: Laut § 163/I Satz 1 der Strafprozessordnung (StPO) haben die Behörden und Beamten des Polizeidienstes Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. In Pressemitteilungen heißt es häufig: „Die Kriminalpolizei ermittelt“, das bedeutet, wir tragen Personen- und Sachbeweise zusammen. Personenbeweise sind alle Befragungen und Vernehmungen von Opfern, Tätern und Zeugen. Sachbeweise sind alle Spuren, die am Opfer, Täter und am Tatort sichergestellt werden, wie Fingerabdrücke, DNA-Spuren, Faserspuren, Videoaufzeichnungen, Verbindungsdaten etc. Wir beantragen in der Regel bei Tatverdächtigen über die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Amtsgericht auch einen Durchsuchungs- und Sicherstellungsbeschluss und beschlagnahmen vor Ort relevante Beweismittel wie Computer, Datenträger und Handys. Die Wahrheit liegt sehr oft in diesen Beweismittelträgern.

BZB: Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit Jugendämtern, Ärzten und Zahnärzten?

Raab: Die Zusammenarbeit mit Jugendämtern, Ärzten und Zahnärzten spielt eine wichtige Rolle. In § 8a des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) ist der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung in den Absätzen 2 und 3 wie folgt geregelt:

(2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.

(3) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungsberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein.

Ärzte und Zahnärzte sind ja an die ärztliche Schweigepflicht gebunden. Der Arzt darf seine Schweigepflicht gegenüber der Polizei nur dann brechen, wenn er im Rahmen der Behandlung mitbekommt, dass sein Patient ein schweres Verbrechen plant und dadurch die Gesundheit anderer gefährdet wird. Das Strafgesetzbuch (§ 34 StGB) geht hier von einem „rechtfertigenden Notstand“ aus.

Für Ärzte und Zahnärzte spielt vor allem der Artikel 14 GDVG (Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst) eine wichtige Rolle. Hierzu heißt es in Absatz 6:

(6) Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger sind verpflichtet, gewichtige Anhaltspunkte für eine Misshandlung, Vernachlässigung oder einen sexuellen Missbrauch eines Kindes oder Jugendlichen, die ihnen im Rahmen ihrer Berufsausübung bekannt werden, unter Übermittlung der erforderlichen personenbezogenen Daten unverzüglich dem Jugendamt mitzuteilen. Der Kinderschutz ist hier also höherrangig als die ärztliche Schweigepflicht.

BZB: Sexueller Missbrauch geht oft mit häuslicher Gewalt einher. Was kann ein Zahnarzt machen, wenn er einen Verdachtsfall in seiner Praxis hat?

Raab: Laut Kommissariat 105 (Prävention und Opferschutz) des Polizeipräsidiums München ist Prävention bei häuslicher Gewalt in erster Linie ein Fall der Aufklärung. Viele Ärzte und Zahnärzte sind für dieses Thema sensibilisiert. Sie legen Infomaterial in ihren Praxen aus. Auch Plakate kommen gut an. Wenn ein Zahnarzt etwa aufgrund einer nicht erklärbaren Verletzung Verdacht schöpft, sollte er versuchen, mit dem Betroffenen ein Vieraugengespräch zu führen. Wenn Begleitpersonen dies zu verhindern versuchen, hat das meistens einen Grund. Bei Minderjährigen sollte dann das Jugendamt informiert werden. Erwachsenen Opfern kann man eine Anzeige bei der Polizei nahelegen. Leider ist die Hemmschwelle zur Strafanzeige gegen Täter aus dem sozialen Umfeld sehr hoch. Es ist aber wichtig, dass jeder Missbrauch angezeigt wird. Nur so können wir das Leid der Opfer beenden, die Täter zur Rechenschaft ziehen und weitere Fälle verhindern.

BZB: Es kommt auch vor, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt werden. Waren Sie mit solchen Fällen konfrontiert?

Raab: Solche Fälle bewegen sich im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Die Gründe für falsche Verdächtigung (§ 164 StGB) oder Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB) sind sehr vielschichtig. Oft verbergen sich dahinter Enttäuschungen über Ablehnungen oder es sind psychische Hilfeschreie. Mein Grundsatz war aber immer: Ich glaube zunächst jedem Opfer. Denn es wäre für eine vergewaltigte Frau, ein missbrauchtes Kind, jedes schwer traumatisierten Opfer der „Supergau“, wenn ihm nicht einmal die Polizei glauben würde.

BZB: Wie sollte man sich verhalten, um nicht in die Mühlen von Polizei und Justiz zu geraten?

Raab: Salopp gesagt, keine Straftaten begehen und sich auch nicht auf strafrechtlich relevanten oder pornografischen Seiten im Internet rumtreiben. In der Arbeitswelt empfiehlt es sich, so oft wie möglich das Sechsaugenprinzip anzuwenden und zum Beispiel Personalgespräche immer mit einem Zeugen zu führen.

BZB: Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Leo Hofmeier.