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Die Zahnmedizin wird für internationale Investoren unattraktiver

Dr. Jens Kober über ein Urteil des Sozialgerichts München

Am 17. Mai 2023 erließ das Sozialgericht München (SG) ein wegweisendes Urteil: Demnach entfällt die bisherige Privilegierung von Großpraxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Wir sprachen mit KZVB-Vorstandsmitglied Dr. Jens Kober über die Auswirkungen dieser Entscheidung.

BZB: Behandeln MVZ in der Zahnmedizin generell unwirtschaftlicher als Einzel- oder Gemeinschaftspraxen?

Einen Meilenstein für den Erhalt der Praxislandschaft sieht Dr. Jens Kober in einem Urteil
des Sozialgerichts München, das für mehr Gerechtigkeit bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung sorgen soll.

Kober: MVZ rechnen zumindest pro Fall deutlich mehr bei der KZVB ab als Einzel- oder Gemeinschaftspraxen. Das gilt sowohl für die meisten zahnarztgeführten als auch für fremdkapitalfinanzierte MVZ. Über die Ursachen kann ich nur spekulieren. Wir prüfen in der KZVB die Abrechnungen natürlich auf Richtigkeit und Plausibilität. Doch bislang konnten wir nicht verhindern, dass sich MVZ pro Patient deutlich mehr aus dem Honorartopf nehmen als die kleineren Praxen. Das war vertretbar, solange das Budget ausreichend war. Durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat sich die Lage aber geändert. Wir müssen Wege finden, das Wirtschaftlichkeitsgebot jetzt gerechter anzuwenden, um Budgetüberschreitungen zu vermeiden oder auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

BZB: Reichen die Instrumente, die die Selbstverwaltung hat, um „Abrechnungsoptimierung“ einzudämmen?

Kober: Die Selbstverwaltung wird ihrem gesetzlichen Auftrag vollumfänglich gerecht. Gerechtigkeit bei der Honorarverteilung ist elementar für die Akzeptanz des Vertragsarztsystems. Abrechnungsoptimierung ist auch etwas anderes als Abrechnungsbetrug. Wir haben ja als KZVB selbst gerade eine Veranstaltungsreihe abgeschlossen, bei der wir den Teilnehmern die Schnittstellen zwischen Bema und GOZ ausführlich erläutert haben. Ich bin mir relativ sicher, dass auch MVZ nicht alleine von Kassenleistungen leben können. Wie schon erwähnt, wird jede Abrechnung, die in der KZVB eingeht, geprüft. Bei offensichtlichen Fehlern kontaktieren wir die betroffene Praxis und beraten sie. Die Abrechnungen der MVZ sind formal überwiegend korrekt. Das liegt auch daran, dass es in größeren Einheiten Mitarbeiterinnen gibt, die nichts anderes machen als Verwaltung. Große MVZ beschäftigen sogar Betriebswirte mit dem Schwerpunkt Gesundheitsmanagement, die genau wissen, wie man „korrekt“ abrechnet. Das schärfste Schwert, das die Selbstverwaltung im Umgang mit MVZ hat, ist die Wirtschaftlichkeitsprüfung, die wir gemeinsam mit den Krankenkassen durchführen. Dort werden immer wieder Auffälligkeiten festgestellt, die die MVZ-Betreiber erklären müssen.

BZB: Um was ging es vor dem Sozialgericht (SG) München?

Kober: Geklagt hat ein MVZ, dessen Abrechnung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung um 34 Prozent gekürzt wurde. Grund für die Kürzung war eine erhebliche Überschreitung der abgerechneten Fallwerte im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Die mit Vertretern der Krankenkassen und der Zahnärzte paritätisch besetzte Prüfungsstelle konnte keine nachvollziehbaren Gründe für diese Überschreitung erkennen. Praxisbesonderheiten oder kompensatorische Einsparungen konnten die Überschreitung ebenfalls nicht erklären. Der Beschwerdeausschuss teilte diese Auffassung und wies einen vom MVZ-Betreiber eingelegten Widerspruch zurück. Daraufhin reichte das MVZ Klage beim SG München ein. Das Gericht schloss sich vollumfänglich der Argumentation der Prüfungsstelle an, erteilte aber auch einen klaren Arbeitsauftrag.

BZB: Der da lautet?

Kober: Bislang wurden in der Wirtschaftlichkeitsprüfung größere Praxen und MVZ gegenüber kleineren bevorzugt. Der Grund hierfür sind die sogenannten Verdünnerscheine. Je mehr Patienten eine Praxis hat, desto weniger fallen auch sehr hohe Überschreitungen bei einzelnen Fällen ins Gewicht. Dies gilt insbesondere für sehr große Praxen mit langen Öffnungszeiten. Naturgemäß werden diese Praxen neben der normalen Patiententherapie häufig außerhalb der für kleine Praxen üblichen Sprechzeiten zur Schmerzbehandlung aufgesucht. Solche Patienten lassen sich meist nur einmalig provisorisch versorgen und gehen anschließend zur weiteren Therapie wieder zu ihrem Stammzahnarzt. Hierdurch entstehen einerseits günstige Verdünnerfälle in den Großpraxen, die aufwendigen und teuren Leistungen bleiben andererseits in den Einzel- und Gemeinschaftspraxen.

Die Prüfungsstelle hat deshalb die zulässige Überschreitung des Gesamtfallwertes großer Praxen gegenüber dem Landesdurchschnitt statistisch relativiert, um eine bessere Vergleichsbasis zu erhalten. Damit kann die tatsächliche Unwirtschaftlichkeit großer Praxen dargestellt und, sofern keine Praxisbesonderheiten oder kompensatorische Einsparungen die Überschreitungen erklären, auch „abgeschöpft“ werden. Diese neue Vorgehensweise führt vor allem bei investorenfinanzierten MVZ (iMVZ), die an mehreren Standorten aktiv sind, dazu, dass sie ihre tatsächliche Unwirtschaftlichkeit nicht mehr durch ihre große Fallzahl kaschieren können. Damit wird es für Investoren automatisch unattraktiver, in die zahnmedizinische Versorgung einzusteigen. Nach Auffassung des Sozialgerichts handelt es sich hierbei „grundsätzlich um einen tauglichen Ansatz, der zu einem Mehr an Transparenz und Nachvollziehbarkeit führen würde“. Gleichzeitig regt das Gericht aber auch ein Sachverständigengutachten an, aus dem hervorgeht, „inwiefern damit den Strukturen großer Praxen nachvollziehbar Rechnung getragen werden kann“. Auf gut Deutsch heißt das: Führt die neue Berechnungsweise tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung?

BZB: Kommen Sie dieser Aufforderung nach?

Kober: Selbstverständlich! Der Vorstand der KZVB hat das Sachverständigen-Gutachten bereits in Auftrag gegeben. Ich bin zuversichtlich, dass die neue Berechnungsmethode der externen Prüfung standhält.

BZB: Können Sie uns diese Berechnungsmethode in einfachen Worten erklären?

Kober: Im Prinzip verhält es sich hier ähnlich wie beim Würfeln mit einem regulären Sechs-Augen-Würfel. Wir haben eine Stichprobe und können beobachten, wie oft jemand gewürfelt hat und welche Augenzahlen gewürfelt wurden. Nun wollen wir wissen, ob der Würfel gezinkt ist. Bei einem fairen Würfel müssten im Mittel 3,5 Augen geworfen werden. Tatsächlich kann ein konkretes Stichprobenmittel natürlich auch bei einem fairen Würfel über 3,5 liegen, rein aus Zufall. Daher ging die Wirtschaftlichkeitsprüfung bislang generell davon aus, dass erst bei einer Überschreitung des Durchschnittes um 50 Prozent, also wenn im Durchschnitt 5,25 Augen gewürfelt werden, ein offensichtliches Missverhältnis vorliegt. Legt man nun die Gesetze der Stochastik zugrunde, so weiß man: Je größer die Stichprobe, desto mehr nähert sich das Stichprobenmittel dem wahren Durchschnitt an – dies besagt das sogenannte Gesetz der Großen Zahlen. Mit dem Standardfehler kann man sogar, unter wenigen Voraussetzungen, exakt berechnen, wie genau man den wahren Mittelwert einer Stichprobe abhängig von der Stichprobengröße bestimmen kann.

BZB: Und wie wird diese Formel in der Wirtschaftlichkeitsprüfung angewandt?

Kober: Nun sagen wir: Für eine Praxis mit durchschnittlicher Größe ist eine Überschreitung des Gesamtfallwertes um 50 Prozent weiterhin in Ordnung, so wie es jahrelang in der Wirtschaftlichkeitsprüfung praktiziert wurde. Für alle anderen Praxen verhält sich dieser Faktor allerdings genauso wie der Standardfehler in der Statistik. Wenn eine Praxis eine dreifach höhere Fallzahl als der Durchschnitt aufweist, so beginnt das offensichtliche Missverhältnis schon bei 28,9 Prozent (siehe Kasten). Dadurch würde einerseits bereits ab diesem Wert die Anscheinsvermutung der Unwirtschaftlichkeit mit der Folge der Beweislastumkehr eintreten, andererseits könnten auch Fallwertüberschreitungen bereits ab diesem Wert einer Kürzung unterliegen.

BZB: Welche Konsequenzen hat diese Formel für die Wirtschaftlichkeitsprüfung?

Kober: Wir erreichen damit zwei Ziele: Die „Großen“, die sich viel aus dem Honorartopf nehmen, kommen häufiger in die Wirtschaftlichkeitsprüfung, die Kleinen seltener und haben dann gleichzeitig die Argumentation einer an ihre individuelle Fallzahl angepassten, erhöhten Überschreitungsgrenze auf ihrer Seite. Oder, wie es das Gericht ausdrückte: „Eine in Relation zur Vergleichsgruppe besonders niedrige Fallzahl kann zur Folge haben, dass einzelne, besonders aufwendige Behandlungsfälle den Fallwert des betroffenen Arztes/Zahnarztes überproportional in die Höhe treiben. In diesem Fall wird die Überlegung anzustellen sein, entweder die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis individuell nach oben anzupassen oder dies im Rahmen der Kürzung auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.“

Das bedeutet konkret: Die Formel muss auch in die andere Richtung wirken. Ist eine Praxis nur halb so groß wie die durchschnittliche Praxis, so darf das offensichtliche Missverhältnis erst bei 70,7 Prozent (siehe Kasten) beginnen.


DER STANDARDFEHLER
Der Standardfehler ist eine Schätzung, wie sehr der Wert einer Teststatistik von Stichprobe zu Stichprobe variiert. Der Standardfehler nimmt mit dem Kehrwert der Quadratwurzel der Stichprobengröße ab. Würfelt man doppelt so oft, so reduziert sich der Standardfehler auf 1⁄√2 = 70,7 %. Liegt das offensichtliche Missverhältnis bei einer durchschnittlichen Praxisgröße bei 50 %, so beginnt es bei einer dreifach höheren Fallzahl schon bei bei (50 %)⁄√3 = 28,9 %. Ist eine Praxis nur halb so groß wie die durchschnittliche Praxis, so darf das offensichtliche Missverhältnis erst bei (50 %)⁄√0,5 = 70,7 % beginnen.


BZB: Ist das Urteil rechtskräftig?

Kober: Ja, das klagende MVZ hat erfreulicherweise keine Berufung eingelegt. Das ist ein Indiz dafür, dass unsere neue Formel rechtskonform ist. Wenn das durch das Sachverständigengutachten bestätigt wird, können wir die Wirtschaftlichkeitsprüfung auf neue, gerechtere Beine stellen – übrigens nicht nur in Bayern. Das Urteil hat bundesweiten Präzedenzcharakter.

BZB: Muss eine normale Praxis, die im oberen Mittelfeld abrechnet, nun zittern?

Kober: Nein, keinesfalls. Die Größenadjustierung sorgt ja für mehr Gerechtigkeit im System. Wir haben hierzu auch genau analysiert, wer von der neuen Formel betroffen ist. In ganz Bayern ist das eine niedrige, zweistellige Zahl der rund 6 500 Praxen. Interessanterweise sind darunter allerdings sehr viele iMVZ. Bei diesen wenigen Praxen beziehungsweise bei den MVZ könnte in Zukunft ein sehr signifikanter Teil der Unwirtschaftlichkeit gekürzt und gerade in Zeiten der Budgetierung den restlichen über 99,5 Prozent der Praxen zur Verfügung gestellt werden. Wir reden hier nicht über „Peanuts“, sondern über einen einstelligen Millionenbetrag. Dies entspricht in etwa dem Volumen der gesamten bisherigen Wirtschaftlichkeitsprüfung.

BZB: Braucht es dann überhaupt noch ein MVZ-Gesetz?

Kober: Das Urteil des SG München ist zweifellos ein Meilenstein für den Erhalt unserer Versorgungslandschaft. Wir halten aber dennoch an unseren politischen Forderungen fest: Gründung und Betrieb eines MVZ sollte ausschließlich Ärzten beziehungsweise Zahnärzten gestattet sein. Medizin ist keine Ware und gehört deshalb nicht in die Hand von Hedgefonds. Außerdem brauchen wir ein MVZ-Register, das Auskunft darüber gibt, wem ein MVZ gehört. Und die Gründungsbefugnis muss räumlich begrenzt werden. Niemand kann mir erklären, warum ein Krankenhaus mit Sitz in Schleswig-Holstein in Bayern ein zahnmedizinisches MVZ gründen darf.

BZB: Warum sehen Sie den Vormarsch internationaler Investoren kritisch?

Kober: Aus mehreren Gründen: Die Ungerechtigkeiten in der Wirtschaftlichkeitsprüfung, für die wir nun einen Lösungsvorschlag entwickelt haben, habe ich bereits erwähnt. Damit hat es hoffentlich bald ein Ende. Außerdem konzentrieren sich iMVZ in den städtischen Ballungsräumen und werben uns den Nachwuchs ab, den wir als Gründer oder Übernehmer im ländlichen Raum dringend bräuchten. Der Blick ins europäische Ausland zeigt, wozu die Bildung von Dentalketten mit Monopolstrukturen führen kann. Im Fall einer Insolvenz stehen Tausende von Patienten ohne Behandler da. Und zu guter Letzt fließen die Gewinne von iMVZ und damit auch Beitragsgelder aus der gesetzlichen Krankenversicherung häufig in Offshore-Staaten wie die Kaimaninseln. Das kann nicht im Sinne des Gemeinwohls sein.

BZB: Tragen MVZ zum Rückgang der Niederlassungsbereitschaft bei?

Kober: Sie sind nicht ursächlich, aber mitverantwortlich. Junge Menschen haben heute eine andere Lebensplanung als meine Generation. Sie wollen oft keine 50-Stunden-Woche und legen Wert auf die berühmte Work-Life-Balance. Das geht natürlich leichter als Angestellter. Die Hauptverantwortung für den Trend zur Anstellung trägt aber die Politik. Die enorme Bürokratiebelastung, der Fachkräftemangel, ein GOZ-Punktwert von 1988 und die Wiedereinführung der Budgetierung beschleunigen das Praxissterben.

BZB: Wer schließt die dadurch entstehenden Lücken in der Versorgungslandschaft?

Kober: Eine gute Frage! Ganz sicher nicht iMVZ! Wir müssen gemeinsam alles dafür tun, dass ein Bewusstseinswandel beim Nachwuchs einsetzt. Freiberuflichkeit ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung. Es hat unglaublich viele Vorteile, sein eigener Chef oder seine eigene Chefin zu sein. Das müssen wir künftig noch viel stärker an die Jungen herantragen. An der Uni, während der Assistenzzeit und auch danach. Wer sich bis 40 nicht niederlässt, wird es erfahrungsgemäß auch später nicht mehr tun. Ich will jedenfalls nicht, dass in ein paar Jahren die KZVB eigene Praxen eröffnen muss, um den gesetzlichen Sicherstellungsauftrag zu erfüllen.

BZB: Vielen Dank für das Gespräch!

Zum Urteil: Das Urteil des SG München ist nachlesbar unter: https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2023-N-12547

Die Fragen stellte Leo Hofmeier.