Der kleine (große) Unterschied

Prof. Dr. Johannes Einwag über den 64. Bayerischen Zahnärztetag im Oktober

Der Bayerische Zahnärztetag 2023 steht ganz im Zeichen der personalisierten Zahnmedizin. Verantwortlich dafür ist Prof. Dr. Johannes Einwag, Referent Fortbildung der Bayerischen Landeszahnärztekammer und Wissenschaftlicher Leiter des Bayerischen Zahnärztetages. Im BZB-Interview fasst er zusammen, was ihn bei der Konzeption des Kongresses beeinflusst hat und warum dieses Thema gerade jetzt eine breite Bühne braucht.

BZB: Der diesjährige Zahnärztetag trägt das Leitmotiv „Der kleine (große) Unterschied – Patientenindividuelle Planung und Therapie“. Woher kam der Impuls für diesen Schwerpunkt?

Prof. Dr. Johannes Einwag ist Referent Fortbildung der Bayerischen Landeszahnärztekammer und Wissenschaftlicher Leiter des Bayerischen Zahnärztetages. © privat

Einwag: Es war kein einzelner Impuls, sondern letztlich das Ergebnis einer Entwicklung, deren Konsequenzen für den Praxisalltag einfach nicht mehr ignoriert werden können. Bedingt durch die Innovationen der vergangenen Jahre steht inzwischen ein umfassendes Repertoire an diagnostischen, präventiven und therapeutischen Instrumenten zur Verfügung. Es ermöglicht der zahnärztlichen Profession, die medizinisch notwendige patientenindividuelle Planung und Therapie tatsächlich umzusetzen. Summa summarum: Die Zeit war reif, um diese Thematik nicht nur bei einem wissenschaftlichen Kolloquium abzuhandeln, sondern um es bei einem Großkongress einer breiten zahnärztlichen Öffentlichkeit zu präsentieren.

BZB: Der Bayerische Zahnärztetag steht für seine Praxisorientierung. Welche Vorträge würden Sie in diesem Jahr besonders hervorheben?

Einwag: Angesichts der unterschiedlichen Vorkenntnisse und Erwartungen wäre die Beantwortung dieser Frage naturgemäß sehr subjektiv. Lassen Sie mich die Antwort daher so formulieren: Bei der Konzeption des Kongresses habe ich mich bemüht, die wesentlichen Tupfer aus der großen Farbpalette der infrage kommenden Themen so auszuwählen, dass für jede Kollegin und jeden Kollegen ein praktischer Nutzen für den Praxisalltag generiert wird. Außerdem blicken wir über den zahnärztlichen Tellerrand hinaus. Dabei unterstützen uns Spitzenreferenten aus Medizin, Kommunikation, Marketing, Betriebswirtschaft, Medizinrecht und Wirtschaftsinformatik.

BZB: Warum ist die personalisierte Zahnmedizin mehr als nur ein Hype?

Einwag: Weil sie praktisch umsetzbar ist. Um nur einige Aspekte zu nennen: Unsere modernen diagnostischen Möglichkeiten erlauben es uns heute, Abweichungen vom Gesunden bereits in frühen, reversiblen Stadien zu erkennen und zu behandeln – und nicht erst dann, wenn sich schon irreversible Schäden wie kariöse Defekte oder Knochenabbau zeigen. Bei der Prävention lassen sich individuelle Mundhygienedefizite durch professionelle Maßnahmen – von der PZR bis zur Anwendung von Lacken – kompensieren. Bei der Therapie stehen uns innovative Materialien im Einklang mit bewährten Konzepten zur Verfügung. So können wir selbst Patienten, die erhöhte Krankheitsrisiken und hohe Ansprüche an die Qualität der Versorgung haben, funktionell wie ästhetisch zufriedenstellen.

Auf den Punkt gebracht: Das zahnärztliche Triple aus Diagnostik, Prävention und Therapie versetzt uns mittlerweile in die Lage, die Behandlung auf die persönlichen Bedürfnisse und Wünsche unserer Patienten maßzuschneidern. Dieser Grad an Individualität erfordert viel Beratung.

BZB: Benötigen Frauen und Männer unterschiedliche zahnärztliche Betreuung allein aufgrund ihres Geschlechtes?

Einwag: Hier müssen wir differenzieren: Im Bereich der Kommunikation ist dies mit Sicherheit der Fall. Frauen hören anders, Frauen entscheiden anders. Deshalb greifen wir diese Thematik gleich in zwei Vorträgen auf. Die Pharmakologie kennt Divergenzen bei Effektivität und Verträglichkeit – nicht ohne Grund müssen Pharmaunternehmen seit 2004 wieder Studien mit beiden Geschlechtern vorlegen, um neue Medikamente auf den Markt zu bringen. So wirken – und nebenwirken – beispielsweise Schmerzmittel bei Frauen stärker als bei Männern. Die Dosierungsempfehlungen sind jedoch auf einen männlichen Norm-Körper zugeschnitten. Daher ist es wichtig, dass wir bei unseren Patientinnen das potenzielle Risiko einer Überdosierung im Hinterkopf behalten.

Ein weiteres spannendes Feld eröffnet sich durch die Feminisierung des (zahn-)ärztlichen Berufsstandes. Gleich mehrere Studien weisen darauf hin, dass die Wirkung von Medikamenten und der Erfolg einer Therapie unter anderem davon abhängen, ob ein Mann oder eine Frau behandelt hat. Hier fließen verschiedene Gesichtspunkte ein: Statistisch gesehen halten sich Ärztinnen enger an klinische Richtlinien und orientieren sich an evidenzbasierten Anwendungen. Sie sind empathischer, nehmen sich mehr Zeit für ihre Patienten, deren Krankengeschichte und für die Beratung. Zudem haben Prävention und Nachsorge einen höheren Stellenwert als bei den männlichen Kollegen.

Um die Frage umfassend auszuloten: Ein klares „Nein“ dagegen ist die Antwort, wenn es um die Präparationsregeln in Zahnerhaltung und Prothetik geht.

Typische Koronarläsionen bei Frauen und Männern
KA: Koronararterien, AP: Angina pectoris, MI: Myokardinfarkt
© Prof. Dr. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek, Charité Universitätsmedizin Berlin

BZB: Der Gender-spezifische Blickwinkel ist in allen medizinischen Fachrichtungen ein großes Thema. Sind die Zahnärzte später dran als die Kolleginnen und Kollegen?

Einwag: Die Tatsache, dass eine Erkrankung bei Frauen und Männern unterschiedlich verlaufen und ungleiche Symptome hervorbringen kann, wurde in den 1980er-Jahren langsam klar. Damals fiel auf, dass sich ein Herzinfarkt bei Patientinnen anders äußert. Männer klagen vor allem über Schmerzen in der Brust und in den Armen. Bei Frauen macht sich ein Infarkt eher durch Schmerzen zwischen den Schulterblättern, im Nacken und Kopf bemerkbar, durch Übelkeit und Schweißausbrüche. Aus diesen Beobachtungen entwickelte sich die Gender- oder geschlechtersensible Medizin, die biologische Unterschiede und soziokulturelle Einflüsse bei der Behandlung und in der medizinischen Forschung berücksichtigt.

Zuletzt hat uns Covid-19 empfindliche geschlechtsspezifische Besonderheiten vor Augen geführt. Männer haben nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 häufiger einen schweren Verlauf. Darüber hinaus liegt ihre Mortalitätsrate höher. Der weibliche Körper bekommt das Virus oft besser in den Griff. Dabei spielen die Sexualhormone eine zentrale Rolle: Das weibliche Östrogen wirkt aktivierend auf das Immunsystem. Testosteron hingegen, das männliche Sexualhormon, dimmt die Abwehr herunter. Diese Effekte sind seit einiger Zeit bekannt.

Die Forschung am neuartigen Coronavirus hat einen weiteren Faktor ins Licht gerückt: die Geschlechtschromosomen, also die Träger des menschlichen Bauplans. Wichtige Informationen für das Immunsystem liegen auf dem X-Chromosom. Frauen haben zwei davon, und dieses doppelte X-Chromosom verschafft offenbar einen Vorsprung bei der Immunabwehr. Die „Gender-Zahnmedizin“ ist Teil dieses aufregenden Prozesses.

BZB: Vielen Dank für das Gespräch. Wir freuen uns auf spannende Ein- und Ausblicke beim Bayerischen Zahnärztetag 2023.

Das Interview führte Ingrid Krieger, Geschäftsbereich Kommunikation der BLZK.


INFORMATIONEN UND ANMELDUNG
Details zum Kongress erfahren Sie im Internet: www.blzk.de/zahnaerztetag

Oder Sie nutzen die Online-Anmeldung auf der Kongressseite: www.bayerischer-zahnaerztetag.de