Bayerischer Zahnärztetag München

Der 64. Bayerische Zahnärztetag stand heuer im Zeichen der patientenindividuellen Planung und Therapie. Über den Tellerrand hinausblickend startete der Freitagvormittag mit einem Block „fachfremder“ Vorträge, der aufzeigte, dass in anderen Disziplinen die geschlechterspezifische Differenzierung schon seit einiger Zeit Einzug gehalten hat.

Prof. Dr. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek/Berlin

Vom Männerschnupfen und anderen tödlichen Erkrankungen – Warum Frauen und Männer oft verschiedene Therapien brauchen

Als Kardiologin und Vorreiterin der Gendermedizin in Deutschland begann die Referentin mit einem Überblick über ihr Fachgebiet und stellte die Ergebnisse einer Untersuchung der Frühsterblichkeit junger Frauen nach Bypass-OP am Herzzentrum vor.

Diese Studie war ihr Eintritt in die Gendermedizin. Sie betont, dass Gendermedizin keine Frauenmedizin sei. Gender sei eine multidimensionale Kategorie: Rollenverhalten, Normen, Identität, soziale Beziehung und Hierarchien werden berücksichtigt.

Sie stellte heraus, dass das Schmerzempfinden und die Kommunikation bei Geschlechtern unterschiedlich sei und somit auch die Anforderungen an die jeweilige Therapie.

Da Probanden bei Arzneimittelentwicklungen fast ausschließlich Männer sind, wird häufig nicht berücksichtigt, dass sich Frauen und Männer in ihrer Körperzusammensetzung unterscheiden, Frauen einen höheren Körperfettgehalt haben und daher fettlösliche Medikamente bei ihnen eher akkumulieren. Unterschiedliche Resorption im Magen-Darm-Trakt, geschlechtsspezifische Aktivierung von Arzneimitteln in der Leber und Ausscheidung in der Niere werden oft ebenfalls nicht berücksichtigt. Es resultieren erhebliche Unterschiede in der Wirksamkeit, in der optimalen Dosis und in der Nebenwirkung wichtiger Medikamente. Wieder sind die Herz-Kreislauf-Medikamente am besten untersucht. In der Folge finden sich weltweit mehr Arzneimittel-Nebenwirkungen bei Frauen als bei Männern.

Es gibt im medizinischen Alltag zahlreiche Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die eine Rolle spielen. Ihre Mechanismen haben wir zum Teil verstanden. Die genaue Beschreibung und die Umsetzung in die Praxis stehen leider noch aus. Letztlich würde diese längst überfällige Maßnahme zu einer erheblichen Verbesserung der Qualität in der Medizin führen.


Prof. Dr. Margrit-Ann Geibel MME/Ulm

Warum „Sex“ und „Orale Medizin“ zusammengehören

Als Oralchirurgin konnte die Referentin den Bogen von der Kardiologie und der Allgemeinmedizin auf die Zahnmedizin schlagen und versuchte den Begriff Genderdentistry mit Leben zu füllen. Der Unterschied zwischen dem biologischen und soziokulturellen Geschlecht ist im Englischen durch die Begriffe „sex“ und „gender“ besser unterscheidbar. Der deutsche Wissenschaftsrat will eine breitere Verankerung der Geschlechterforschung, weil er darin ein dynamisches und auch zukunftsträchtiges Forschungsfeld sieht. In der neuen Approbationsordnung für Zahnmedizin in Deutschland ist Gendermedizin noch nicht umgesetzt.

Anhand vieler Studien zeigte sie auf, dass Männer eine höhere Prävalenz für Wurzelkaries haben, Frauen aber eine höhere Prävalenz für Wurzelkanalbehandlungen. Bei Mädchen kommen Nichtanlagen der oberen seitlichen Schneidezähne und der unteren zweiten Prämolaren häufiger vor. Bei Jungen ist die zweite Dentition um ca. 1,5 Jahre verspätet.

Frauen sind präventionsorientierter als Männer, aber leiden an stärkeren postoperativen Schmerzen. Die Immunabwehr ist bei Frauen generell aggressiver, weshalb sich bei ihnen deutlich häufiger Autoimmunerkrankungen finden. Auch bei rheumatischen Erkrankungen, Lupus und bei der Multiplen Sklerose überwiegen die weiblichen Patienten. Frauen nehmen im Durchschnitt mehr Medikamente ein als Männer und führen auch öfter Eigentherapien mit rezeptfreien Medikamenten durch.

Während einige Erkrankungen eindeutig mit dem biologischen Geschlecht assoziiert sind, z. B. Brustkrebs oder Prostatakarzinom, spielen Gender-Aspekte vor allem bei multifaktoriellen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Orale Medizin gehört in den Augen von Prof. Geibel zur Kernkompetenz der präventionsorientierten, personalisierten Zahnmedizin.


Dipl.-Wirtsch.-Ing. Sabine Nemec/Langenselbold

„Frau“ Patientin, „Herr“ Patient: Frauen hören anders – Männer auch

Am Beispiel des Kaufentscheidungsprozesses zeigte Frau Nemec, wie unterschiedlich Frauen und Männer zu ihrer Entscheidungsfindung kommen und begann die Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten herauszustellen sowie Lösungsansätze für eine optimale Betreuung aufzuzeigen. Mit Beispielen aus dem privaten Umgangs- und Beziehungsverhalten von Mann und Frau konnte sie dem Auditorium plakative Beispiele für den Unterschied in der Kommunikation geben: „Mädchen fangen früher an zu sprechen und hören später auf“.

Natürlich ist keine der geschlechterspezifischen Verhaltens- und Denkweisen besser oder schlechter. Sie sind einfach anders. Übertragen auf eine patientenfreundliche Praxis gilt es, diese unterschiedlichen Verhaltens- und Denkmuster zu verstehen und zu erkennen, um eine optimale Ansprache von Patientin und Patient zu gewährleisten. Was für den Patienten zutrifft, trifft schließlich nicht unbedingt auf die Patientin zu und umgekehrt.

Als Empfehlung für die Kommunikation mit Patientinnen empfiehlt sie, sich Zeit zu nehmen, Mitgefühl, Verständnis und Wertschätzung für die Person zu zeigen. Man solle die Patientin in den Mittelpunkt des Gespräches stellen und aufmerksam in den Details sein. Für die Unterhaltung mit dem Patienten gelte es keine fordernde Haltung einzunehmen, kurz und sachlich zu erklären und auch eine gute Zusammenarbeit bei der Behandlung zu loben.

Bei einem Zahnarztpraxisbesuch tragen verschiedene Faktoren zum Wohlbefinden von Patienten und Patientinnen bei.

Eine Sache, auf die alle Patienten Wert legen, ist die Freundlichkeit des Praxisteams. Sie trägt zum Wohlbefinden aller bei. Der Patient hat keine Möglichkeit, die fachliche Kompetenz des Zahnarztes zu beurteilen, deshalb zieht er Faktoren heran, die er aus seinem Umfeld und seinem täglichen Leben bewerten kann. Und ein Patient kann sehr gut unterscheiden zwischen freundlichem und unfreundlichem Verhalten.


Prof. Dr. Gerd Nufer/Reutlingen

Gender Marketing – Männer und Frauen sind verschieden und entscheiden anders

Gender Marketing gewinnt sowohl in der Marketing-Theorie als auch in der Unternehmenspraxis zunehmend an Bedeutung. Ob es auch in der Zahnarztpraxis relevant sein kann, versucht der Referent vor der Mittagspause des ersten Tages zu vermitteln.

Der Mann sei ein eher pragmatischer Konsument, der in kurzer Zeit kauft, was er sich ursprünglich vorgenommen hat. Die Frau sei eine leidenschaftlichere Konsumentin, für die Einkaufen ein Erlebnis und eine soziale Aktivität darstellt. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass Frauen die attraktivere Zielgruppe darstellen, da sie mehr Zeit in Geschäften verbringen und darüber hinaus tendenziell mehr Geld ausgeben als Männer.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigt sich nicht nur in unterschiedlichen Fähigkeiten und Einstellungen, sondern auch in verschiedenen Bedürfnissen und im Kaufverhalten. Viele Produkte werden von Männern für Männer entwickelt. Produkte, die sich speziell an Frauen richten, werden häufig gemäß dem Motto „pink it and shrink it“ auf den Markt gebracht.

Die heutige Realität sieht jedoch anders aus: Das traditionelle Bild von Frau und Mann mit einer klassischen Rollenverteilung ist überholt.

Produkte, die deutlich dem anderen Geschlecht zugeordnet werden, wecken meist wenig Interesse oder können sogar, insbesondere bei Männern, zu einer ablehnenden Haltung gegenüber diesen Produkten führen. Schafft es ein Anbieter jedoch, ein weibliches Produkt auf männliche Bedürfnisse zuzuschneiden und dieses auch als männliches Produkt zu vermarkten, kann dies zur Entwicklung einer neuen Kundengruppe und eines neuen Absatzmarktes führen. Gleiches gilt für den Zuschnitt männlicher Produkte auf weibliche Bedürfnisse. Er erläuterte die vier Ps im Marketingmix: Product (Produktionspolitik), Price (Preispolitik), Place (Distributionspolitik), Promotion (Kommunikationspolitik) und zeigte Beispiele für das Gender Pricing: „weibliche“ Produkte sind durchschnittlich sieben Prozent teurer.

Seiner Meinung nach gibt es im Marketing nur zwei Dinge von wichtiger Bedeutung: Das eine ist der Kunde und das andere das Produkt. Wenn man sich um seine Kunden (Patienten) kümmert, kommen sie zurück, wenn man sich um sein Produkt (Therapie) kümmert, kommt es nicht zurück.


Eileen Andrä/München & Dipl.-Ing. Matthias Benkert/München

Telematik-Infrastruktur (TI) – Aktuelle Infos aus der Praxis für die Praxis

Zu Beginn erläuterten die Referenten noch einmal die technischen Voraussetzungen und Komponenten der Telematik Infrastruktur. Um einen reibungslosen Betrieb zu gewährleisten, sollten alle TI-Komponenten nach Herstellervorgaben aktualisiert und regelmäßige Updates eingelesen werden. Beim notwendigen Tausch der SMC-B Karte nach fünf Jahren wurde darauf hingewiesen, die Karte einen Tag vor dem Wechsel zu aktivieren, weil es einen Tag dauere, bis die KIM Adresse im Verzeichnis sichtbar wird und dann vom Techniker mit eingerichtet werden kann. Zu berücksichtigen ist auch, dass bei der Bestellung der neuen SMC-B Karte auch ein erneutes Ident-Verfahren erfolgt.

Die KIM soll in naher Zukunft cryptshare ablösen. Zusätzlich wird ab Ende 2023 TIM eingeführt, das zukünftige „Whats App“ des Gesundheitswesens, auf das schon gespannt gewartet wird. In den Augen der Referenten könnte TIM die Kommunikation im Gesundheitswesen sehr erleichtern. Rundschreiben der KZVB sollen ab 2024 auch per KIM verschickt werden. Im Rahmen der Telematik-Refinanzierung soll ab Januar die Auszahlung für August, September und Oktober 2023 erfolgen. Hierfür ist eine Eigenerklärung notwendig, die direkt auf der KZVBHomepage zur Verfügung gestellt werden wird und nur noch mit der jeweiligen KIM Adresse der jeweiligen Praxis komplettiert werden muss.

Für das ab Januar 2024 startende E-Rezept und die elektronische Patientenakte 2.0/3.0 ist ein elektronischer Heilberufsausweis Voraussetzung. Außerdem ist ein weiteres Kartenlesegerät empfehlenswert. Pro Rezept darf nur ein Medikament verschrieben werden. Die Patienten können das E-Rezept entweder mir der eGK oder einer App in der Apotheke einlösen. Alternativ muss auf Wunsch des Patienten auch ein Ausdruck des Rezeptes erfolgen. Mit dem darauf generierten QR-Code, der in der Apotheke gescannt wird, kann der Patient nun sein Rezept einlösen.

Für alle weiterführenden Informationen empfehlen die Referenten die Homepage der KZVB und stehen auch gerne persönlich mit Rat und Tat zur Seite.


Herbert Thiel/München

Stolpern, aber nicht fallen – Fehler vermeiden: Datenschutz in der Zahnarztpraxis

Als langjähriger Mitarbeiter in verschiedenen zahnärztlichen Körperschaften konnte er einen guten Überblick zum Thema Datenschutz vermitteln und gab erneut praktische Tipps für die zahnärztliche Praxis.

§ 53 BDSG-neu legt fest: Mit der Datenverarbeitung befasste Personen dürfen personenbezogene Daten nicht unbefugt erheben, verarbeiten oder nutzen (Datengeheimnis). Es besteht eine „Verpflichtung auf die Vertraulichkeit“, die bei Tätigkeitsaufnahme erfolgen muss. Zu verpflichten sind alle Mitarbeiter, die mit personenbezogenen Daten arbeiten. Das Datengeheimnis gilt nicht nur während des Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch noch danach.

Er empfiehlt im analogen und digitalen Arbeitsumfeld, das „clean-desk-Prinzip“ zu befolgen. Damit sind die folgenden technisch-organisatorischen Maßnahmen viel leichter umzusetzen. Er erläuterte die Themen Zutrittskontrolle (Schloss), Zugangskontrolle (Passwort), Zugriffskontrolle (Verschlüsselung), Weitergabekontrolle, Eingabekontrolle (Protokoll), Auftragskontrolle, Verfügbarkeitskontrolle und Datentrennung.

Bei der Auftragsdatenverarbeitung ist zu beachten, dass der Praxisinhaber eine schriftliche Vereinbarung mit dem Dienstleister treffen muss. Deren Inhalt ist durch den Gesetzgeber vorgegeben (§ 11 Abs. 2 BDSG). Bei Wartungsarbeiten durch Dienstleister ist eine schriftliche Vereinbarung erforderlich, wenn der Zugriff auf personenbezogene Daten nicht auszuschließen ist (§ 11 Abs. 5 BDSG). Auch muss der Zahnarzt den Dienstleister vorab und dann weiter regelmäßig kontrollieren (z. B. Vor-Ort-Kontrolle oder anhand von Fragebögen).

Ein Datenschutzbeauftragter wird notwendig, sobald mindestens 20 Personen mit der automatisierten Bearbeitung personenbezogener Daten beschäftigt sind.

Um die Praxis vor Datenangriffen oder Viren zu schützen, ist es wichtig, Virenscanner und Firewall aktuell zu halten und vorsichtig zu sein mit der Installation von Dateien aus unzuverlässigen Quellen.

Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht mit Sitz in Ansbach ist für die bayerischen Zahnärzte zuständig. Alle weiteren Informationen sind unter www.lda.bayern.de zu finden.


Prof. Dr. Elisabeth Heinemann/Worms

Wissenskabarett: Die digitale Leichtigkeit des Seins – Reloaded

Die nächste Referentin kündigte Johannes Einwag als etwas Besonderes, noch nie Dagewesenes an. Nach der etwas schwerer verdaulichen Kost der Telematik und des Datenschutzes konnte als letzte Referentin Elisabeth Heinemann, Professorin für Informatik und Digitaloptimistin, das Auditorium im letzten Vortrag des ersten Tages nochmal so richtig mitreißen und für die Digitalisierung begeistern.

Sie begann mit einem launigen Rückblick über die Entwicklung der Digitalisierung in den vergangenen 50 Jahren mit den Meilensteinen der Entwicklung des ersten Computers, der Einführung des Internets bis zur Markteinführung des iPhones, das Nutzen von Cloud-basierten Anwendungen und Streamingdiensten wie auch die Entwicklung von Systemen der künstlichen Intelligenz. Künstliche Intelligenz sei in ihren Augen nur maschinelles Lernen. Um die Vorteile von z. B. ChatGPT adäquat zu nutzen, sei die richtige Fragestellung und der entsprechende Kontext notwendig. Man sollte sich bei jeder Aktivität in sozialen Netzwerken und bei Verwendung von KI-basierten Geräten darüber bewusst sein, dass die Sammlung von Daten die Hauptintention der Betreiber bzw. Hersteller sei. Sie gab Tipps zu Sicherheitsfragen: regelmäßige Back-ups durchführen, sichere Passwörter verwenden (je länger, desto besser) und kritisch zu sein bei Fake-Seiten und Berichten.

Als erste Vortragende auf einem Bayerischen Zahnärztetag nahm sie das Mikrofon in die Hand und gab einen famosen Song live zum Besten. Mit vielen kuriosen Stilblüten aus den Tiefen des Internets und Social-Media-Plattformen sorgte sie für einen furiosen Abschluss des ersten Kongresstages.


Prof. Dr. Diana Wolff/Heidelberg

20 Jahre kompromisslose Zahnerhaltung – Lernen aus Fehlern und Bestätigung aus Erfolgen

Der zweite Vortragstag wurde von Dr. Prof. Diana Wolff eröffnet. Die Zahnerhaltungskunde hat in ihren Augen in den vergangenen Jahren durch die Etablierung und stetige Verbesserung der adhäsiven Technik eine Revolution erfahren.

Einen minimalinvasiven Ansatz in der konservierenden Zahnheilkunde sieht die Referentin im maximalen Erhalt der Zahnhartsubstanzen. Ihr Fach sieht sie sowohl als Prä- als auch Postprothetik und zeigte viele beeindruckende klinische Fallbeispiele. Ihre positiven Erfahrungen mit adhäsiven Kompositrestaurationen untermauern ihre Überzeugung, dass bei Jugendlichen Fälle der Frontzahnästhetik nur mithilfe von Komposit gelöst werden sollten und auf Veneers und Kronenversorgungen verzichtet werden könne.

Sogar schon vorher mit Kronen versorgte Zähne kann man heutzutage mit Komposit rekonstruieren. Für die Versorgung von Einzelzahnlücken favorisiert sie chairside angefertigte Glasfaserbrücken.

Bei der Entscheidungsfindung für die Art der Befestigung ist immer der Zustand der Nachbarzähne zu beachten. Bei stabilen Zähnen ohne Lockerungsgrad empfiehlt sie, im Frontzahnbereich nur einen Ankerzahn zu verwenden. Im Seitenzahnbereich rät sie dazu, eher beide an die Lücke angrenzenden Nachbarzähne miteinzubeziehen. Mit einer zu erwartenden Überlebensdauer von fünf Jahren sollten diese Versorgung als eine semipermanente Lösung zu sehen sein. Tief subgingivale Defekte, bei denen es auch zu einer Verletzung der biologischen Breite kommt, sollten volladhäsiv, also auch mit Schmelzätzung, durchgeführt werden. Als Alternative zur chirurgischen Kronenverlängerung und zur kieferorthopädischen Extrusion sieht sie die Kastenelevation bzw. die R2-Restauration.

Sie zeigte Fälle mit einer Nachbeobachtungszeit von bis zu 21 Jahren und erläutert, dass diese Versorgungen auch im Laufe der Zeit im Sinne einer Reparatur ergänzt und die Funktionen wiederhergestellt werden können. Beim Höckerersatz sind genauso wie bei einer indirekten Restauration die Schichtstärken zu beachten, um eine gute Langzeitprognose zu erhalten.


Prof. Dr. Petra Gierthmühlen/Düsseldorf

Wie viel Prothetik brauchen wir eigentlich?

In ihrer Abteilung an der Düsseldorfer Universitätsklinik kommen vermehrt digitale Planungstools und Herstellungsverfahren zum Einsatz. Sie haben viele Behandlungsabläufe deutlich effizienter werden lassen. Auch in den Studentenkursen wird bereits der digitale Workflow gelehrt. Lithium-disilikat ist das Material der Wahl bei zahngetragenen Einzelrestaurationen. Für implantatgetragene Restaurationen empfiehlt sie monolithisches Zirkonoxid, da die Vergangenheit gezeigt hat, dass es bei verblendeten Zirkonoxidkronen häufig zum Chipping kommt.

Begeistert ist sie von den präzisen „ultra-dünnen“ Rändern der digital gefertigten Vollkeramikrestaurationen. In einer In-vitro-Studie konnte gezeigt werden, dass bei monolithischen Zirkonoxidkronen 0,5–0,8 mm Schichtstärke eine ausreichende Frakturresistenz aufweisen. Dies wurde auch in den vergangenen fünf Jahren durch klinische Studien untermauert.

Mit tollen Fotos präsentierte sie defektbezogene Restaurationen. Die Präparation für Vollkeramikrestaurationen sollte möglichst abgerundet sein und wie eine sanfte Welle erscheinen. Auf eine Kastenpräparation und eine invasive Schulter soll verzichtet werden. Non-retentive Präparationsformen sollten einen Rotationsschutz erhalten. Bei Non-Präp-Fällen sei immer die Gefahr der Überkonturierung der Restauration gegeben.

Die gezeigten techniksensitiven, minimal- invasiven Techniken erfordern Training. Man sollte sich dessen bewusst sein und sich auch eine entsprechende Lernkurve zugestehen.


Prof. Dr. Moritz Kebschull MBA/Birmingham

„One size fits all“ vs. personalisierte Medizin – Was bringen Standards in der Parodontologie und wo müssen wir individuell anpassen?

Zu Beginn seiner Präsentation skizzierte er, wie umfassend man beim Erstellen von Leitlinien alle beteiligten Fachgesellschaften und auch Vertreter der Patienteninteressen miteinbeziehen muss. Die aktuellen S3-Leitlinien spiegeln wieder, dass die Parodontitistherapie einer der wissenschaftlich am besten untersuchten Bereiche der Zahnmedizin ist. Diese Leitlinien sind eine große Hilfe, um die am besten geeignete Therapie für jeden Patienten individuell festzulegen. Er wies auf die Zusammenhänge zwischen Parodontitiden und Allgemeinerkrankungen hin, die heutzutage gut belegt sind. Er betonte, wie wichtig die Früherkennung in der Parodontologie ist.

Bei Diabetespatienten sollte der HbA1c- Wert kontrolliert und sich nicht nur auf die Aussage der Patienten verlassen werden („Ja, mein Diabetes ist eingestellt“), sondern gerne auch mal der Diabetologe kontaktiert werden.

Die Reduktion der Sondierungstiefen ist bester Surrogatparameter für Zahnverlust, also muss das Ziel sein, die Sondierungstiefen möglichst stark zu reduzieren. Die adjuvante systemische Antibiotikatherapie sollte nicht routinemäßig zum Einsatz kommen, sondern nur in bestimmten Fällen, z. B. generalisiertem Stadium III/IV, bei jungen Patienten eingesetzt werden.

Um für den Patienten die richtige Therapie zu finden, muss der Spagat zwischen formellen Leitlinien und den individuellen Möglichkeiten und Herausforderungen der personalisierten Medizin geschlagen werden. Von der Forschung in die Praxis: „Zur Evidenzsynthese braucht es klinischen gesunden Menschenverstand“.

Zum Ende seines Vortrages vergleicht er die Situation bei Paro-Patienten mit einem auf dem Herd stehenden Kochtopf, dem man nie den Rücken zuwenden, sondern regelmäßig den Deckel abheben sollte, um Druck abzulassen (Recall), damit er nicht überläuft, also die Parodontitis nicht wieder aktiv wird. Die UPT endet nie – einmal Paro-Patient, immer Paro-Patient!


Dr. Dr. Markus Tröltzsch/Ansbach

Augmentation vs. alternative Techniken

Zum Einstieg in seine Präsentation zeigte er einen sehr anspruchsvollen Augmentationsfall bei einer sehr kompromittierten Ausgangssituation, den er mit einem individuell angefertigten Knochegitter löste. Hier gab er zu bedenken, dass sich die Entfernung dieses Gitters nach zu langer Osseointegrationszeit schwierig gestalten kann, und empfiehlt deshalb, nach vier Monaten wieder zu eröffnen.

Er versuchte anschließend herauszuarbeiten, wie die verschiedenen Techniken zum Zahnerhalt, Gewebeerhalt, der Geweberegeneration und der Implantation zum für den individuellen Fall besten Konzept beitragen können. Nach ausführlicher Anamnese und Planung müsse immer auch der Patientenwunsch mit berücksichtigt werden.

In Fällen mit geringem Knochenangebot könne mit Verwendung kurzer Implantate eventuell auf eine Augmentation verzichtet werden. Eine zitierte Studie zeigte, dass kurze Implantate nach fünf Jahren unter prothetischer Belastung weniger Komplikationen haben als längere Implantate mit vertikalem Knochenaufbau im Unterkiefer.

Für Implantate unter 6 mm Länge sowie auch bei durchmesserreduzierten unter 3 mm gibt es noch zu wenige Daten. Er verwies auf einen aktuellen Praxisleitfaden des BdiZ, der weitere Informationen zum Thema bereithält. Um in reduzierten Knochenqualitäten eine ausreichende Primärstabilität zu erreichen, ist ein „aggressives“ Gewindedesign des Implantates von großem Vorteil.

Das Implantat muss die prothetische Versorgung sicher stützen und an die ossäre Situation angepasst sein. Die Abwägung der Komplikationswahrscheinlichkeit mit und ohne Augmentation soll nach prothetischer Festlegung der Implantatposition erfolgen und so individuell für jeden Fall den richtigen Behandlungsweg aufzeigen.


Priv.-Doz. Dr. Maximilian Wimmer/München

Wie funktioniert die Honorarverteilung der KZVB?

Zu Beginn seiner Präsentation erläuterte Priv.-Doz. Maximilian Wimmer sehr strukturiert und verständlich, wie die Honorarverteilung der KZVB funktioniert.

Die KZVB schließt Vergütungsverträge mit den Krankenkassen und verteilt die Gesamtvergütung gemäß ihres Honorarverteilungsmaßstabes an ihre Mitglieder. Die Rechtsgrundlage hierfür findet sich im Sozialgesetzbuch V (§ 85). Kassen zahlen an die KZVB, die jede Leistung auf Grundlage von Einzelleistungen an die etwa 6 400 Vertragszahnärzte vergütet. Verhandlungen zu Punktwert- und Gesamtvergütungserhöhungen mit den Krankenkassen gestalten sich immer als sehr schwierig, da sich diese auf den Grundsatz der Beitragsstabilität berufen können, der in Absatz 3 von § 85 SGB festgehalten wurde. Für das Jahr 2024 wird eine Punktwerterhöhung von 2,72  Prozent in Aussicht gestellt.

Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz schreibt Zahnärzten nun eine strikte Budgetierung für das Jahr vor. Die Budgetierung kommt nach der Aussetzung 2021 und 2022 nun in 2023 verschärft zurück. Wahrscheinlich reicht bei manchen Krankenkassen das Gesamtbudget nicht aus, sodass der Honorarverteilungsmaßstab der KZVB angewendet werden muss. Aufgrund dessen wurde das Budgetradar eingeführt. Hier (auf der Homepage der KZVB) kann man sich tagesaktuell über die Budgetausschöpfung der einzelnen Krankenkassen informieren.

Die Mitteilung zum HVM weist die praxisindividuellen Mehrleistungen aus und wird mit der Monatsabrechnung übermittelt. Die KZVB möchte Transparenz schaffen und steht bei Fragen sehr gerne bereit, um weiterzuhelfen.


Dr. Kristin Büttner/München

Mehr Gerechtigkeit in der Wirtschaftlichkeitsprüfung? Die Vorstellung eines neuen, praxisindividuellen Lösungsansatzes.

Vor der letzten Pause des Kongresses hat Frau Dr. Büttner das komplexe und durchaus unbeliebte Thema der Wirtschaftlichkeitsprüfung für das Auditorium aufbereitet.

Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) stellt die Rechtsgrundlage zur Wirtschaftlichkeitsprüfung dar: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht erwirken und die Krankenkassen nicht bewilligen“. Da die Patienten nicht in die Abrechnung eingebunden sind, soll die Wirtschaftlichkeitsprüfung ein Kontrollmechanismus sein und die Funktionsfähigkeit des GKV sichern.

Derzeit werden konservierend-chirurgische Leistungen, Röntgenleistungen, kieferorthopädische Leistungen, die Verordnungstätigkeit und die Kiefergelenkerkrankungen geprüft. Die Maßnahmen reichen von Hinweisen bis zu Vergütungsberichtigungen bzw. Regressen.

Gemäß § 296 SGB V übermitteln die KZVen den Krankenkassen bestimmte Daten für die Prüfung nach Durchschnittswerten. Die daraus erstellten Statistiken schaffen eine Vergleichsbasis der verschiedenen Abrechnungseinheiten. Das offensichtliche Missverhältnis zum Landesdurchschnitt (ab 50 % des Gesamtfallwertes und ab 100 % bei Einzelpositionen) hat zur Folge, dass der Geprüfte die Wirtschaftlichkeit seiner Behandlung/Abrechnung beweisen muss.

In der Bemühung, die Wirtschaftlichkeitsprüfung gerechter zu gestalten, versucht man mit einer neuen Berechnungsformel, die Praxisgröße bei der Festlegung der noch tolerierbaren Überschreitungsgrenze zu berücksichtigen. Man ist bestrebt, kleinere Praxen mit weniger Patientenfällen zu entlasten und nicht einer Wirtschaftlichkeitsprüfung zuzuführen.

Das Sozialgericht München hat mit einem Urteil im Mai 2023 die Auffassung der KZVB bestätigt, dass die Anwendung dieses neuen Berechnungsverfahrens die Überprüfung von großen Praxen nun leichter möglich macht und für ein Mehr an Transparenz sorgt. Die Berechnung dieser praxisindividuellen Überschreitungsgrenzen wird auch von den Krankenkassen angenommen.


Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer M.A. FEBOMFS/Mainz

Der „Risikopatient“ – Vom Umgang mit allgemeinmedizinischen Herausforderungen

Er begann mit dem allgemeinmedizinischen Thema antibakterielle Endokarditisprophylaxe. Nach der letzten Aktualisierung der Empfehlungen der American Heart Association (AHA) im Jahr 2007 wird die antibiotische Therapie vor dentalen Eingriffen nur noch bei Höchstrisikopatienten (Patienten mit Klappenersatz, Patienten mit rekonstruierten Klappen unter Verwendung von alloprothetischem Material in den ersten sechs Monaten nach OP, herztranplantierte Patienten, Patienten mit zyanotischen Herzfehlern, Patienten mit Endokarditis in der Anamnese) empfohlen. Ein aber ebenso wichtiger Punkt ist die Aufklärung und Durchführung von Mundhygienemaßnahmen, da es allein schon beim Kauen bei stark parodontal erkrankter Dentition zu einer Bakteriämie kommen kann.

Als perioperative Antibiotikaprophylaxe empfiehlt die AHA in 2021: Amoxicillin (2 g); bei Vorliegen einer Penicillinallergie: Azithromycin (500 mg), Clarithromycin (500 mg) oder Doxycyclin (100 mg), alle als Singleshot zwei Stunden vor dem geplanten Eingriff. Clindamycin ist nach Manifestation von Resistenzen und den bekannten Nebenwirkungen in der Mainzer Klinik des Referenten in den Hintergrund getreten und gegen Azithromycin getauscht worden. Bei Vorliegen eines Diabetes mellitus ist bekannt, dass die Patienten ein erhöhtes Parodontitis- und Periimplantitisrisiko haben, die Knochenregeneration verzögert ist. Deswegen sollte bei diesen Patienten eine präoperative Antibiotikaprophylaxe erfolgen und auch antiseptische Mundspülungen verordnet werden.

Bei Notwendigkeit einer antiresorptiven Therapie des Knochens ist es wichtig, die behandelnden Kollegen zu kontaktieren. Eine bessere Kommunikation mit den Allgemeinmedizinern und Fachärzten wie Diabetologen, Orthopäden, Urologen und Gynäkologen kann z. B. der Laufzettel der AGSMO erleichtern. Vor Beginn sollte eine parodontale Sanierung durchgeführt und eine gute Mundhygiene installiert werden. Fragliche Zähne sollten entfernt und Prothesendruckstellen vermieden werden. Es sollte individuell für jeden Patienten das Risiko einer Kiefernekrose eingeschätzt und entsprechend therapiert werden. Bei schon erfolgter und laufender antiresorptiver Therapie sollten dentoalveoläre Eingriffe antibiotisch abgeschirmt werden.

Als Autor der S3-Leitline ging er abschließend auf neue Aspekte der dentalen Chirurgie unter oraler Antikoagulation ein. Der Trend geht zur Fortführung der antikoagulativen Therapie ohne Bridging. Ein hohes Blutungsrisiko ist bei dualen oder Triple-Therapien zu erwarten und soll dem Risiko einer Thromboembolie gegenübergestellt werden. Lokale blutstillende Maßnahmen wie das Verwenden von Hämostyptika und Spülungen mit Tranexamsäure helfen beim postoperativen Management. In Absprache mit dem Internisten sollte auch hier patientenindividuell abgewogen werden, ob der bevorstehende Eingriff unter Weiterführung der Antikoagulation erfolgen sollte und ob nicht auch unter stationären Bedingungen einer Fachklinik operiert werden sollte.


Prof. Dr. Falk Schwendicke MDPH/Berlin

Personalisierte Zahnmedizin: Vision oder Illusion?

Prof. Falk Schwendicke, der seinen Ruf an die Klinik der Zahnerhaltung der LMU München angenommen hat und ab Januar 2024 die Nachfolge von Prof. Hickel antreten wird, konnte als letzter Referent einen spannenden Ausblick in die Zukunft der personalisierten Zahnmedizin geben.

Er erörtete in seiner Präsentation, wie entscheidend die künstliche Intelligenz auf dem Weg zur personalisierten Zahnmedizin sein kann und in seinen Augen auch wird. Er umriss die Anfänge der KI in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Anschließend zeigte er anhand der Bildanalyse in der Dermatologie die Systematik und die Entwicklung von „machine learning“– hin zu „deep learning“-Modellen. Hier wird die menschliche Fähigkeit, aus Beispielen und Erfahrungen zu lernen, auf den Computer übertragen. Künstliche neuronale Netze ermöglichen komplexes Lernen.

Dies erfordert allerdings eine umfangreiche Datenbasis. Die kontinuierliche Erweiterung des Algorithmus gelingt nur mit einer Vielzahl von Bilddaten, deren Zugänglichkeit in der Medizin erschwert ist. Am Beispiel von Amazon zeigte er, wie große Tech-Unternehmen mit den schon gesammelten und noch zu sammelnden Datenmengen einen großen Vorteil haben und sich die Medizin in der Zukunft verändern wird.

Im zahnmedizinischen Bereich hat er ein digitales, vollautomatisches Diagnosesystem von Röntgenbildern vorgestellt. Von der erhofften P4-(precise, personalized, preventive, parcipatory-)Zahnmedizin, die mithilfe digitaler Systeme und KI erreicht werden soll, sind wir aber noch ein Stück entfernt, da hierzu noch viele Daten gebraucht werden, um die KI-Modelle zu trainieren.