Wie sich der Sozialstatus auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt
Die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen hat sich in den vergangenen 20 Jahren erheblich verbessert. Dennoch gibt es noch immer einen engen Zusammenhang zwischen Karies und Sozialstatus. Dr. Laura Castiglioni ist am Deutschen Jugendinstitut in München für das Themenfeld Familie im sozioökonomischen Kontext zuständig. Wir sprachen mit ihr über Ursachen und Lösungsansätze für die „Sozialkaries“.
BZB: Es scheint einen engen Zusammenhang zwischen dem Sozialstatus von Kindern und Jugendlichen sowie der körperlichen und seelischen Gesundheit zu geben. Können Sie das bestätigen?
Castiglioni: Ein Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Gesundheitszustand und -verhalten, aber auch bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung ist empirisch belegt. Wenn wir von Kindern mit niedrigem Sozialstatus sprechen, dann meinen wir Kinder, die in Haushalten aufwachsen, die über wenig Ressourcen verfügen, also wenig Geld haben, und in denen die Eltern weniger gut ausgebildet sind. Häufig kommen weitere belastende Umstände hinzu: Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Trennung, aber auch Flucht oder Migration. Diese Bedingungen sind auch für die Kinder belastend und nicht förderlich für eine gesunde Entwicklung. Für diese Familien kann es schwierig sein, vollwertige Mahlzeiten zuzubereiten oder den Kindern ausreichend Bewegungsangebote zu machen, weil diese Dinge Geld kosten oder Wissen erfordern. Auch die Suche nach Informationen und geeigneten Hilfen ist für Menschen, die selbst unter großer Belastung stehen, nicht immer einfach: Es gilt, viel Stress und Frustration auszuhalten und Schamgefühle zu überwinden.
BZB: Gibt es Krankheiten, bei denen dieser Zusammenhang besonders ausgeprägt ist? Wie sieht es bei der Mundgesundheit aus?
Castiglioni: Die Daten zeigen einen Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen, Übergewicht und Adipositas sowie Asthma. Studien im Bereich der Frühen Hilfen zeigen, dass das Risiko für Entwicklungsverzögerungen bei armutsgefährdeten Kindern signifikant erhöht ist. Auch im Bereich der psychischen Gesundheit zeigen sich gravierende Unterschiede: Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sind häufiger von psychischen Auffälligkeiten wie Depressionen und Angststörungen betroffen als Gleichaltrige aus mittleren und hohen Einkommensgruppen. Darüber hinaus treiben Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status seltener Sport und konsumieren häufiger Tabak, Alkohol und Drogen als Kinder mit hohem sozioökonomischem Status.
Die Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen ist in Deutschland zwar sehr hoch, aber auch hier zeigt sich eine etwas geringere Inanspruchnahme bei Kindern aus benachteiligten Familien. In Bezug auf die Zahn- und Mundhygiene ist belegt, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status sowie mit Migrationshintergrund ein höheres Risiko für ein unzureichendes Mundgesundheitsverhalten aufweisen.
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BZB: Sie sagen: Prävention hat ihren Ursprung in der Familie. Warum?
Castiglioni: Kinder lernen eine gesunde Lebensweise und den Umgang mit Gesundheit und Krankheit in erster Linie in der Familie. Zum einen schauen sich Kinder viel von ihren Eltern ab und verinnerlichen deren Lebensstil, Umgang mit Problemen oder Bewältigungsmechanismen. Unsere Eltern (oder Erziehungsberechtigten) sind die Menschen, die wir in unserer Kindheit am besten kennen, und wir neigen dazu, ihren Lebensstil als normal anzusehen. Eltern sind aber auch diejenigen, die Entscheidungen für ihre Kinder treffen. Wenn wir wollen, dass Kinder an Präventionsmaßnahmen teilnehmen, müssen wir vor allem ihre Familien davon überzeugen, dass dies sinnvoll ist.
BZB: Die bayerischen Zahnärzte haben große Erfolge bei der Verbesserung der Mundgesundheit erzielt. Ein Baustein dafür ist die LAGZ, die Aufklärungsarbeit in Kindergärten und Schulen leistet. Ist das der richtige Ansatz?
Castiglioni: Je nach Problemlage brauchen wir unterschiedliche Ansätze, aber die Aufklärungsarbeit der LAGZ ist hier wichtig und effektiv. Kinder können ihre Zahnhygiene schon sehr früh beeinflussen, wenn sie wissen, wie man richtig putzt. Es ist sinnvoll, sie direkt anzusprechen und zu informieren. So können Kinder befähigt werden, ihre Gesundheit positiv zu beeinflussen.
BZB: Stimmen Sie zu, dass es eine „Sozialkaries“ gibt?
Castiglioni: Der Begriff ist mir neu, aber ich glaube, er ist richtig. Es wäre eine logische Folge von Unterschieden im Gesundheitsverhalten. Wenn Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Status tendenziell eine schlechtere Mundhygiene haben und seltener zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, kann das zu mehr Karies führen.
BZB: Wie kann man dem außer durch die schon erwähnte Präventionsarbeit entgegenwirken? Wie erreicht man die sogenannten bildungsfernen Schichten?
Castiglioni: Wichtig ist eine niedrigschwellige Information über Beratungs- und Unterstützungsangebote über viele Kanäle. Dabei muss darauf geachtet werden, Scham abzubauen. Viele Themen rund um Armut und Gesundheit sind schambesetzt, was viele Menschen davon abhält, sich Hilfe zu holen.
BZB: Welche Rolle spielen Social Media bei der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen?
Castiglioni: Laut der kürzlich veröffentlichten Shell-Studie nutzen 82 Prozent der Jugendlichen soziale Medien – die Exposition ist also sehr hoch. Etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen sucht Informationen online. Die Studie zeigt aber auch, dass nur eine Minderheit der Jugendlichen Online-Quellen für vertrauenswürdig hält: 36 Prozent halten TikTok oder Instagram für (sehr) vertrauenswürdig, bei Kommunikationsplattformen wie X sind es nur 29 Prozent. Neun von zehn Jugendlichen finden, dass der Umgang mit digitalen Medien und das Erkennen von Fake News auf den Lehrplan gehören. Dass Social Media einen gewissen Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben, ist sicher richtig, aber ich vermute, dass es mit dem sozioökonomischen Hintergrund zusammenhängt, wie viel und wofür sie diese nutzen und wie kritisch sie damit umgehen. Man kann Kinder und Jugendliche über soziale Medien informieren, aber wahrscheinlich erreicht man damit nicht alle sozialen Schichten gut. Erfolg versprechend wären Werbekampagnen mit kind- und jugendgerechten Botschaften und der Beteiligung geeigneter Prominenter.
BZB: Was raten Sie Ärzten und Zahnärzten, wenn sie Verwahrlosung oder sogar Spuren häuslicher Gewalt bei Kindern und Jugendlichen feststellen?
Castiglioni: Der Fall ist durch § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz geregelt. Wenn Ärzte oder Zahnärzte Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohles wahrnehmen, sollen sie die Eltern darauf ansprechen und sie dazu bewegen, Unterstützungsangebote der Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt zahlreiche Beratungsstellen (zum Beispiel der Erziehungsberatung), an die sich Eltern wenden können. Zur Unterstützung bei der Beurteilung der Gefährdung des Kindeswohles stehen den (Zahn-)Ärzten „insofern erfahrene Fachkräfte“ zur Verfügung. Mit ihnen können die (Zahn-)Ärzte den Fall anonym besprechen, um die Situation besser einzuschätzen und eine angemessene Vorgehensweise zu finden. Sollte die Ansprache der Eltern keinen Erfolg versprechen oder keine Verbesserungen bewirken, sollen Ärzte und Zahnärzte das Jugendamt informieren. In der Regel sollten die Eltern darüber informiert werden; bei akuter oder erheblicher Gefährdung kann jedoch auf diese Information verzichtet werden. Wenn Ärzte und Zahnärzte so vorgehen, riskieren sie keine strafrechtliche Konsequenz wegen einer Verletzung von Privatgeheimnissen. Zu diesem schwierigen Thema gibt es aber hilfreiche Fortbildungen.
BZB: Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Leo Hofmeier.
KINDERSCHUTZ KLAPPT NUR IN KOOPERATION
Das Kindeswohl besitzt einen hohen gesamtgesellschaftlichen Stellenwert. Bei Anzeichen von Vernachlässigung, Verletzungen oder Missbrauch gibt es in Bayern eine Reihe von Anlaufstellen.
Ein schematischer Handlungsablauf für Ärztinnen und Ärzte gibt genaue Handlungsempfehlungen (www.kinderschutz.bayern.de).
Die Bayerische Kinderschutzambulanz am Institut für Rechtsmedizin der LMU München ist rund um die Uhr erreichbar unter Telefon: 089 2180-73011.
E-Learning-Angebote zum Thema Kinderschutz findet man unter
www.fortbildungsakademie-im-netz.de/fortbildungen/kinderschutz.
Damit Verletzungen dokumentiert werden können, hat die KZVB auf ihrer Website einen „Untersuchungsbogen Forensische Zahnmedizin“ zum Download bereitgestellt. Viele weitere Informationen findet man auch unter www.stmas.bayern.de/kinderschutz.